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Franz Horn (1781-1837) würdigt Jung-Stilling

 
Dieser Text gehört zu den frühsten Würdigungen Jung-Stillings. Er wird in der Enzyklopädie von Ersch und Gruber (siehe den Text hier) zitiert.
 
Die "Jugend" mit "Vater Stilling" und das "Heimweh" werden besonders herausgestellt.
 
Die
Poesie und Beredsamkeit
der Deutschen,
von Luthers Zeit bis zur Gegenwart.
-
Dargestellt
von
Franz Horn.
-
Dritter Band.
-
Berlin 1824,
bei Theod. Joh. Christ. Friedr. Enslin.
 
[Seite:]
181
[...]
 
§. 58.
Heinrich Jung (Stilling), geb. 1740. M an könnte
nicht bloß die deutschen, sondern auch sämmtliche Europäische
 
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Schriftsteller in zwei große Klassen eintheilen. Die erste
überaus zahlreiche umfaßt diejenigen, welche eigentlich dem
Publikum gar nichts zu sagen haben, und dennoch, sei's
durch frivole Willkühr, Eitelkeit oder durch äußere Schein=
veranlassung bewogen, die Feder ergreifen, gelassen ein=
tauchen, und niederschreiben was eben bequem und erträg=
lich scheint. Da unter jenem Ausdrucke "Nichts zu sagen
haben" natürlich nur das nicht bedeutende, nicht Nth=
wendige, den Urhebern selbst nicht einmal nothwendig Schei=
nende verstanden wird, so darf man wohl urtheilen, daß
diese ganze Masse von Literatur ohne Schaden für das Pub=
likum und ohne Schaden für die Autoren selbst, – ver=
brannt oder ins Meer geworfen werden könnte.
 
Die andere Klasse hat in der That und Wahrheit den
Zeitgenossen etwas zu sagen, und da die Menschenstimme
im Gespräch so leicht verhallt, und die Hirtenbriefe nicht
mehr circuliren, so will und muß sich viervielfältigen
durch gedruckte Lettern, die in jeder Hinsicht für den noch
nicht völlig in Leichtsinn Verlorenen etwas entschieden Hei=
liges haben. Bei einem solchen Schriftsteller ist die innere
Nothwendigkeit vorhanden sich mitzutheilen: darum spricht
eer auch nicht wie die alten und neuern Pharisäer und Schrift=
gelehrten um des eiteln Wortgefechts oder um der bloßen
Conversation willen, die nur zu oft in ein bloßes Vielleicht,
oder auch wohl in ein reines Nichts zerflattern, sondern um
der unerschütterlich für wahr anerkannten Sache Selbst will=
len, die er als solche überall anerkannt haben will.
 
Indessen ist vollkommen zuzugeben, daß jene Wahrheit
zuweilen nur eine subjektive sei, welcher der Besitzer zu
rasch eine allgemeine Bedeutsamkeit leiden will, oft ist es
sogar nur ein einziger großer Irrthum, den der Redende
mit ganzer Seele umfaßt, und er kann in diesem Falle
 
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höchst gefährlich werden, indem jenes "mit ganzer Seele
umfassen" stets eine Kraft und ein Leben in den Buchsta=
ben hineinzaubert, von dem tausend mittelmäßig=gute Auto=
ren, die selbst nur halb glauben an das, was sie vor=
bringen, auch nicht die entfernteste Spur erreichen.
 
Jene beiden Klassen von Schriftstellern sind deshalb
nicht etwa bloß dem Grade, sondern der Gattung nach un=
terschieden.
 
§. 59.
Zu welcher von beiden Ordnungen nun Heinrich Stil=
ling zu rechnen sei, ist wohl um so deutlicher, da gerade
er es ist, bei dessen Erwähnung ich jene Bemerkungen vor=
anzuschicken für nöthig fand.
 
Er begann seine literarische Laufbahn, wider alle Ge=
wohnheit, mit seiner Lebensbeschreibung; doch eben dieses
aus dem Kostum geben ist bei ihm charakteristisch. Ihm
ist das Leben mehr als das (an sich löbliche) lernende Um=
herschauen nach vielen Seiten hin, ihm ist der Zweifel tödt=
lich, das Wissen fast nur ein bloß irdisches Vergnügen, ihm
ist der Glaube nicht bloß das Höchste, sondern das allein
Entscheidende und Göttliche. Stillings Selbstbiographie
trägt ohne Zweifel noch manche Spuren von Ungleichheit
und Unreife in der Ansicht und Darstellung, dennoch gehört
sie im Ganzen zu den lebendigsten, gemüthvollsten und lau=
tersten Schriften der Deutschen. Sie fesselt nicht etwa durch
die Darstellung großer Begebenheiten, oder äußerlich ausge=
zeichneter Menschen, wir werden hier eingeführt in sehr
enge Bauernstuben: Kohlenbrenner, Schneider, Schulmei=
ster, höchstens einmal ein Prediger stellen sich unserm Blicke
dar, und verlangen, daß wir sie freundlich begrüßen sollen,
so wie sie es mit uns gehalten haben. Sie erreichen das
 
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bald, denn sie haben fast alle eine sinnvolle Bedeutung, in=
nere Lebendigkeit und äußere Anschaulichkeit. Es ist allen
diesen Personen mit dem was sie thun, und dem Verfasser
mit dem was er schildert, ein heiliger Ernst, weshalb denn
auch der Leser nur zu wählen hat zwischen gänzlicher Wi=
dersetzlichkeit oder freundlicher Hingebung. Dazu kommen noch
die herrlichen altdeutschen Volkslieder, die wie ferne Hei=
mathsberge auf die der Strahl der Abendsonne fällt, die
einzelnen Lebensabschnitte mild und ernst begränzen. So
schauen wir denn von jenen Bauernhütten aus nicht bloß
in die ewige unergründliche Menschenbrust, sondern auch
durch jene Lieder in manche ale Riesenburg die nun gesun=
ken, in manche alte Königshalle in der nun keine Musik
mehr ertönt. Unter Stillings eigenen ist vielleicht
auch nicht ein einziges, dem man das traurige Beiwort
"gemacht" beilegen dürfte, ein Wort, das diese Literatur=
geshichte leider hat recht häufig gebrauchen müssen, weil
sich für die Unzahl von anderweitigen Gedichten, Schau=
spielen, Romanen u. s. w. nun einmal kein andres so be=
zeichnendes Wort wieder auffinden ließ.
 
Soll übrigens aus der Stillingschen Lebensbeschrei=
bung ein Charakter ganz besonders hervorgehoben werden,
so ist dieses Vater Stilling, den das Herz selbst gezeich=
net zu haben scheint, und das Herz ist es ja, wie schon die
Alten gar wußten, das beredt macht. Da jetzt so
häufig auf wunderliche Weise und deshalb größtentheils
zum Verdrusse der Deutschheit, von der Deutschheit die
Rede ist, weshalb denn auch manche sich unter derselben
ein recht hoffärtiges vollmundiges Wesen denken, so scheint
esw ohlgethan auf diesen alten Vater Stilling hinzudeu=
ten und zu sagen: Sehet her, dies ist ein Deutscher, ein
still kräftiger, durch und durch gesunder, einfach thätiger
 
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Mann, stolz auf sein Vaterland, aber viel zu stolz um viel
davon zu reden, stolz auf seine Bürgertugend, muthig und
fröhlich selbst im schweren Leide, ein treuer Hüter der Fa=
milie, fest und entschlossen gegen alles Unwürdige, aber un=
endlich bescheiden und demüthig bis in den Mittelpunkt des
Herzens hin, gegen Gott und den Erlöser. Laßt euch durch
die Darstellung seines Todes nicht schrecken. Er ist ernst
und tragisch, doch weil er wahrhaft tragisch ist, gewiß
nicht zerreißend, sondern führt auch wieder den Trost
mit sich.
 
§. 60.
Mit größern Ansprüchen, doch bei weitem weniger ge=
nügend, erscheint das sehr weitläufige "Heimweh," ein
Werk, dessen Anlage im Ganze und in mehreren einzelnen
seiner allegorischen Beziehungen misglückt ist, und nothwen=
dig misglücken mußte.
 
Die Flügel, die eine rein allegorische Darstellung tragen,
sind gewöhnlich so zart, daß sie den breiten Weg durch meh=
rere Alphabete [Me: = Anzahl der Seiten; je Buchstabe 16 Seiten.] hindurch, oder wie nicht minder hier der
Fall ist, vom Rhein bis zu den ägyptischen Pyramiden hin,
nicht wohl ertragen können, ohne sich staubig und schwer
zu machen.
 
In einem alten Englischen Buche: "Reise des Christen
nach der seligen Ewigkeit," von Bunian, wird eine ähnliche
Idee einfacher und glücklicher ausgeführt, obwohl Stil=
ling in einzelnen Parthien seines Werkes mehr Tiefe und
Bildung zeigt. Störend in dem letztern ist besonders die
zu häufige Erwähnung des metaphysisch=religiösen Heim=
wehs selber, das sich zuweilen durch die theilweis unbehol=
fene Handhabung der Sprache, als eine wirkliche Krankheit
oder gar als etwas sich mit sich selbst Brüstendes darstellt.
 
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ist, daß Jung in seine Schriften dieses Leben überhaupt
nicht in der Selbstvollendung desselben, sondern fast immer
nur in seiner Unzulänglichkeit und Unbefriedigtheit betrach=
ter, wodurch er mehr verletzt und betrübt als stärkt. Jedes
Leben und jede Welt hat ihre in sich selbst beruhende große
Bedeutung, und eine wechselseitig höchst erfreuliche Bezei=
hung, und so kann und soll uns schon die Zeit zur Ewig=
keit werden.
 
So findet sich denn auch in den geistigen Ahnungen,
in dem Hinüberschauen nach jener Welt, und in den Ver=
kündigungen von dorther, wie wir sie bei Stilling fin=
den, zuweilen etwas Unheimliches und Peinliches; man
dürfte sagen: eine Beimischung von – Leichenduft, von dem
die Seele sich frei erhalten soll.
 
Unsre Religion der reinen Sehnsucht und der reinen
Freude weiß von diesen Schrecken nichts.