Johann Ludwig Ewald (1748-1822), Max von Schenkendorf und Johann Henrich Jung-Stilling siehe hier.
Johann Ludwig Ewalds Nachruf auf Jung-Stilling
Johann Ludwig Ewald, geb. Hayn (Dreieichenhain) bei Offenbach am Main 16. September 1747, gest. Karlsruhe 19. März 1822 stand in engem Kontakt zu Johann Heinrich Jung-Stilling. Umfassend zu Ewald siehe man:
Johann Anselm Steiger: Johann Ludwig Ewald (1748-1822). Rettung eines theologischen Zeitgenossen. Mit 6 Abbildungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte. Hrsg. v. Adolf Martin Ritter. Bd. 62.
Von Ewalds vielen Werken sei hier nur eines wiedergegeben, das das Lebensende Jung-Stillings behandelt und damit eine Ergänzung darstellt zu den Berichten des Enkels und des Schwiegersohnes von Jung-Stilling.
Angezeigt ist die folgende Schrift in:
Literatur-Blatt Nr. 39 zum Morgenblatt für gebildete Stände, 1818, S. 158, Sp. 2 mit dem Text:
"J. L. Ewald: Leben und Tod eines christlichen Ehepaars Dr. J. H. Jung=Stilling und dessen Gattin. 8. broch. Stuttg. Steinkopf. 2 gr.".
Ein weiterer Nachruf findet sich hier.
Hier sei nun der vollständige Text dieses Nachrufs wiedergegeben:
[Titel = S. 1:]
Leben und Tod
eines
christlichen Ehepaars,
Herrn
Dr. J. H. Jung=Stilling
Großherzogl. Baden'schen Geheimen Hofraths,
und
dessen Gattin.
Von
Dr. J. L. Ewald.
-
Aus der "Zeitschrift zur Nährung christli=
chen Sinnes" besonders abgedruckt.
-
Stuttgart,
bey Joh. Fried. Steinkopf.
1817.
[S. 2 vakat; S. 3:] - [= engl Linie 73 mm]
I.
Am 2ten April dieses Jahrs, mit dem Glocken=
schlag 12 Uhr, starb Doctor Johann Heinrich
Jung, genannt Stilling, Großherzogl. Baden=
scher Geheimer Hofrath, im 77sten Jahr seines Al=
ters, an Entkräftung und einem Ansatz von Brust=
wassersucht. Sein Tod war, wie sein Leben: Thä=
tigkeit und Ruhe, Kampf und Sieg. Schon vor
mehreren Wochen hatte er sein Haus bestellt, seine
Papiere geordnet, und das Nöthige verfügt, daß
sie in keine fremde Hände kommen möchten, weil
viele Herzens=, Familien= und selbst Fürsten=Ge=
heimnisse darin eröffnet sind. Nun lebte er ganz
dem Ort, wohin er bald versetzt werden sollte.
Darum blieb er auch ganz ruhig bey dem Hinschei=
den seiner treuen, von ihm innig geliebten Gattin.
Wußte er ja, daß er ihr bald folgen werde, was
auch nach 10 Tagen erfolgt ist (siehe II.). Vielmehr war
es ihm lieb, daß sie seinen Tod nicht noch überle=
ben mußte, wodurch ihre ohnehin schweren Leiden
noch vermehrt worden wären. In der Nacht vor
seinem Todestage, da er fühlte, daß sich sein Ende
nahe, rief er seine vier anwesenden Kinder und drey
Enkel herbey, ließ sie um sein Bett knieen, ermahnte
sie nochmals zur Treue gegen den Herrn, der sich
so treulich und oft seiner und ihrer angenommen
hatte, segnete sie mit Auflegen seiner schwachen
**
- 4 -
Hand, und sprach für sie und mit ihnen ein in=
brünstiges Gebet mit so starker Stimme, daß die
Bewohner des untern Stockwerks jedes Wort verstan=
den, und dadurch erbaut wurden. Nun ruhte er
sanft bis gegen 9 Uhr Vormittags, wo ihm Be=
ängstigungen noch schwere Leiden machten. Einige
Stunden mußt' er des Todes Bitterkeit schmecken;
auch hierin seinem Herrn gleich, dem er im Leben
ähnlich zu werden suchte. Jetzt schied er aber,
sanft und ruhig, hinüber, und diese Ruhe war auf
seinem gleichsam verklärten Angesicht, besonders ei=
nige Stunden nach seinem Tode, und auch noch
die folgenden Tage sichtbar. Am 6. April, Nach=
mittags um 4 Uhr, wurde er zur Erde bestattet.
Mehrere seiner Freunde, aus allen Ständen, folg=
ten dem Leichenwagen; eine unzählige Menge Men=
schen waren auf dem Gottesacker versammelt, und
weinten an seinem Grabe. Neun Sänger, aus den
verschiedensten Ständen und allen drey christlichen
Confessionen, sangen die Cantate von Haydn,
welcher der bekannte Tonkünstler Berger folgen=
den Text untergelegt hatte:
[kleinere Type:] Im Schoos der Erde, in sanften Armen ruht Er, der
Gute,
Und Gottes Hüter steh'n um ihn, wachend, und weh'n
ihm Kühlung mit Himmelspalmen zu.
Erlöst von Leiden, von ird'schen Schmerzen, lächelt der
Seel'ge im süßen Schlaf.
Wohl ihm! er ruhe im Himmelsfrieden! Nach kurzer
Prüfung seh'n wir ihn wieder. [Seitenwechsel; ursprüngliche Type:]
- 5 -
Der Prediger der reformirten Gemeinde, Hr.
Kirchenrath Kulmthal, [sic; im Text mit Bleistift gestrichen und am Rand in Bleistift und richtig: "Kühlen= / thal".] hielt nun, nach Verlesung
der Personalien, eine passende Rede; suchte zu er=
weisen, daß das Andenken des Gerechten, des gu=
ten Regenten, Predigers, Hausvaters, immer im
Segen bleibe, und das Andenken des Seligen gewiß
auch bey vielen Tausenden im Segen bleiben werde.
- [18 mm lang]
Ja, so endete sein thätiges, wohlthätiges Erden=
leben dieser von vielen Tausenden geliebte, nur
von Manchen, die ihn nicht persönlich kannten,
verkannte Mann, der seit 30 Jahren mein Freund
im eigentlichsten Sinn des Wortes war, mit dem
ich 12 Jahre zusammen zu leben das Glück hatte.
Besonders in dieser letzten Zeit erfuhr ich dann,
daß er zwar sehr viel durch seine Schriften in de=
nen ein christlich=frommer Sinn, fester Glaube an
den Herrn, dem er lebte, und Liebe zu allen Men=
schen nicht zu verkennen ist; daß er aber noch weit,
weit mehr durch seine Unterredungen und seine
Correspondenz, hauptsächlich auf Personen aus den
höheren Ständen, wirkte. Er wurde von Leuten
aus allen, bis zu den höchsten Ständen, aus allen
Gegenden Deutschlands, der Schweiz, und mehre=
ren Ländern von Europa besucht. Außer dem seel.
Lavater hat wohl kein Privatmann eine so weit
ausgebreitete, vielseitige Correspondenz unterhalten,
als er. Er fand ein Zutrauen, das Wenige fan=
den und finden, und dieß nicht etwa bloß von ein=
- 6 -
fachen, einfältigen Christen, sondern von den auf=
geklärtesten, gebildetsten Menschen aller Stände,
selbst von sehr klugen, gewandten Weltleuten, die
ihm die innersten Geheimnisse ihres Herzens und
ihrer Familien vertrauten. Ich könnte Beyspiele
von diesem Zutrauen erzählen, die Jedermann auf=
fallen müßten, Manchen unglaublich scheinen wür=
den, und doch wahr sind, wenn die Welt so etwas
tragen könnte, und wenn die Bescheidenheit seiner
Kinder eine Bekanntmachung erlaubte. Manche
verwickelte Familienangelegenheiten brachte er in
Ordnung; manche nachtheiligen Familien=Verständ=
nisse legte er bey; manchen geheimen Druck, der
auf Familien lag, hob er - nicht durch Schlan=
genklugheit allein, sondern durch Taubenredlichkeit
vorzüglich; am meisten durch das Zutrauen, das
sein Wesen Jedem aufdrang, nicht bloß dem, dem
er recht gab, sondern dem, dem er unrecht geben
mußte. Wer weiß, wie viel Hunderte er, durch
Unterredung und Briefe, von Irrwegen auf den
rechten Weg gebracht hat. Einige Tage nach sei=
nem Tode kam noch ein Mann, der ihm dafür
danken und ihn noch um Einiges fragen wollte.
Er war ausdrücklich deßwegen hieher gereiset. -
Wirklich ist es einzig in seiner Art, wie seine per=
sönliche Gegenwart wirkte. Auch finde ich kein
Wort für den Ausdruck seines Gesichts und seines
ganzen Wesens. So wie sich die Gesichter am
schwersten treffen lassen, in denen keine einzelne Ei=
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genschaft hervorsticht, deren Charakter ein schönes
Verhältniß zwischen Kraft, Weisheit und Liebe,
von Thätigkeitstrieb und Ruhe, von Selbstständig=
keit und Hingebung ist: so läßt sich auch der Aus=
druck eines solchen Gesichts am schwersten beschrei=
ben. Diese schöne Mischung von Freundlichkeit und
Ernst, von Mittheilungsdrang und Verschwiegen=
heit, von Herablassung, - Nichtherablassung, von
Gleichsetzung mit dem Geringsten und von Würde
bey dem Vornehmsten; diese Kindlichkeit und Männ=
lichkeit, verschönert und geweiht durch den Aus=
druck der Religiosität, des frommen Sinns - zog
alle Menschenherzen an sich, und wenn sie sich
auch des Gefühls dieser Eigenschaften nicht bewußt
waren. Alle Vorurtheile gegen ihn schwanden, so=
bald man ihn persönlich hatte kennen lernen, oft,
sobald man ihn nur gesehen hatte. Das innerste
Gefühl sagte sogleich den Menschen, daß Jung
zu diesem und jenem,was man von ihm glaubte,
nicht fähig sey; daß ihm diese oder jene Thorheit
nie habe in den Sinn kommen können, die man
wohl gar öffentlich von ihm behauptet hatte. Ein
großer Fürst hatte die Einführung seiner Schriften
in seinen Staaten verbieten lassen, weil man sie
ihm als schwärmerisch, also gefährlich, geschildert
hatte. Er hob sogleich das Verbot auf, nachdem
er ihn persönlich hatte kennen lernen, wurde sein
Gönner, und man darf wohl sagen, sein Freund.
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Auch scheue ich mich nicht, zu sagen, daß mir
noch kein Christus ähnlicherer, ich sage: ähn=
licherer Kopf vorgekommen ist, als des Verklär=
ten Kopf, besonders in seinen letzten Momenten,
wenn sein Inneres erfüllt war von den Aussichten
auf Verbreitung des Reichs des Herrn. Der Ku=
pferstich, nach Danneckers Basrelief, ist ihm
am ähnlichsten.
Ein gewisses Publikum ist fast darin übereinge=
kommen, der Selige sey ein Schwärmer gewesen,
weil er, wie man es nannte, ein Gespensterbuch
geschrieben, weil er nach der Apokalypse die Zu=
kunft Jesus habe berechnen wollen, und weil er -
das war freylich bey diesem Publikum sein Haupt=
Verbrechen - weil er höhere Einwirkung Jesus auf
den Gläubigen, und unläugbare Wirkung derselben
bis auf diesen Tag behauptete. Wenn der Selige
glaubte, die Geister der Verstorbenen könnten noch
auf der Erde erscheinen, und seyen unter gewissen
Umständen erschienen: so konnte er sich irren. Aber
es ist höchst anmaaßend, abzusprechen über das,
was möglich oder unmöglich sey, in einem Reich,
wovon wir nur eine Species, unsern Geist, und
diesen noch lange nicht genug kennen. Ist seine
Theorie nicht richtig: so ist dieß der Fall mit
vielen andern Theorieen, deren Erfinder man
darum nicht Schwärmer genannt hat. Sind man=
che in der Theorie der Geisterkunde erzählte Ge=
schichten nicht historisch bestätigt, oder gar unrich=
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tig: so hätte sie allenfalls der Selige nicht hinläng=
lich geprüft, und dabey ist keine Schwärmerey.
Dieses Leichtgläubigkeit, wenn man es so nennen
will, hing übrigens bey ihm mit etwas so Gutem
zusammen, daß man es nicht aus ihm wegwün=
schen möchte, nehmlich mit dem schönen Glauben:
daß nicht leicht ein Mensch Unwahrheiten sagen
oder etwas übertreiben könne, weil er zu so etwas
unfähig war. Wenn der Selige die Zukunft des
Herrn, nach der Apokyalypse, zu berechnen versuch=
te: so war das, auch nach meiner Ueberzeugung,
ein Irrthum, den man aber auch bey Newton,
Bengel und mehreren gelehrten Theologen findet,
die Niemand für Schwärmer erklären wird. Die
innere Consequenz der Bengel'schen Berechnungsart
wird indeß kein Sachkenner leugnen. Wer nach ei=
nem falschen Einmal Eins rechnet, kann sehr richtig
und künstlich rechnen, und ein Anderer kann leicht
von der scharfsinnigen Rechnungsart angezogen wer=
den, wenn er die Unrichtigkeit des Einmal Eins
nicht einsieht. Ueberhaupt aber haben die wärmsten
Anhänger Jesus oft seine Zukunft näher geglaubt, als
sie ist. Ach! was der Mensch wünscht, das glaubt
er so gerne! Gewiß gefallen sie indeß dem erwar=
teten Herrn besser, als die Satten, Trägen,
Schlummernden, die nur immer sagen: "Der Herr
verzeucht, zu kommen"; oder wohl gar denken,
wenn sie es auch nicht sagen: "Wo ist die Verhei=
ßung seiner Zukunft? Nachdem die Väter entschlafen
- 10 -
sind, bleibt Alles, wie es von Anfang der Creatur ge=
wesen ist" (2 Petr. 3, 4.). Wenn der Selige eine fort=
dauernde Einwirkung des Herrn auf seine Gläubigen
behauptete: so hat er diese Schwärmerey (?) mit
Paulus, Petrus, Johannes, ja mit Jesus selbst ge=
mein. Mein verklärter Freund war von jeher so
wenig Schwärmer, daß er vielmehr, nicht nur durch
seinen Theobald, und durch gar manche Aufsätze in
dem grauen Manne, vor Schwärmereyen mancher
Art warnte, sondern durch seine Correspondenz Hun=
derte von Schwärmereyen zurückbrachte, von denen
sie nicht leicht ein Anderer zurückgebracht haben
würde, zu dem sie nicht ein so unbeschränktes Zu=
trauen gehabt hätten. Der Herr führte ihn in La=
gen, ließ ihn Erscheinungen sehen, in denen hundert
Andere, selbst Aufklärlinge, vielleicht etwas Außer=
ordentliches, Wunderbares gesehen haben würden.
Er entdeckte bald das Natürliche und Künstliche,
was darin verborgen war. Oft sagten seine Freunde
unter sich: Wenn Jung ein Schwärmer ist: so bescheer'
uns doch Gott recht viel Schwärmer; man
würde dann bald sehen, ob es mit christlicher Reli=
giosität und Sittlichkeit schlechter oder besser stehe,
als jetzt.
Menschen, die den Seligen gar nicht kannten,
ihn etweder nach dem grämlichen Gesicht beurtheil=
ten, das ihm einige Kupferstecher ange-logen
haben, oder überhaupt einen jeden tief=religiösen
Menschen für einen Kopfhänger halten, haben ihn
- 11 -
wohl auch dafür erklärt. Darüber können aber die
nur lächeln, die ihn kannten. Es gab nicht leicht
einen heiteren, in sich fröhlichern Menschen. Die
verschiedenartigsten Gesellschaften konnt er angenehm
unterhalten, sie anstecken mit seiner Heiterkeit. Auch
wüßt' ich wirklich nicht, wer heiterer seyn könnte,
als ein Mann mit dem reinen Gewissen, mit dem
Bewußtseyn, jeden Tag etwas Gutes zu wirken im
Kreise einer guten, religiösen, mit unaussprechlicher
Liebe an ihm hangenden Familie, geschätzt und ge=
liebt von allen Edlen, die ihn kannten, mit dem
festen, auf viele Erfahrungen gegründeten Glauben,
daß der Herr auf ihn sehe, sich seiner überall an=
nehme, wo es nöthig ist; daß er sein Jesus, sein
Heiland sey.
Nach Aeußerung mancher Grundsätze in seinen
Schriften haben ihn Manche für hart und intole=
rant erklärt, und doch war er es gar nicht. Wenn
er auch den Glauben an manche (positive) Lehren
des Christenthums für unentbehrlich zur Veredlung
und Glückseligkeit des Menschen hielt: so sprach er
doch gewiß kein hartes Urtheil über Einzelne, de=
nen diese Lehren noch nicht Wahrheit waren, viel=
leicht nicht seyn konnten, besonders wenn er sie
persönlich kennen lernte. Und dieß war nicht In=
consequenz. Nein, ihm wurde es in Gegenwart
solcher Menschen anschaulich, daß es redliche, ehr=
liche, durch andere Menschen irregeführte, schwa=
che, oder mit ihren innersten Bedürfnissen unbe=
- 12 -
kannte Wesen seyen, die man eher bedauern als
verdammen sollte. Zu meiner Beschämung muß
ich bekennen, daß ich oft strenger über einzelne
Menschen geurtheilt habe, als er.
Er hat an beynahe 3000 Blinden ihr Gesicht
wieder gegeben, worunter nicht ganz wenige Blind=
geborene waren. Nie forderte er etwas für seine
Operationen, außer dem Reisegeld, von Wohlha=
benden, wenn er eine eigene Reise darum machen
mußte. Von Aermeren nahm er nie etwas, ver=
sorgte Hunderte noch mit Speise, Trank und La=
ger. Sein Herz war sichtbar zerrissen, wenn er
Jemand ankündigen mußte, daß er nicht helfen
könne, besonders wenn die Menschen von weitem
hergekommen waren, welches nicht selten geschah.
Nun, er ist hinübergegangen zu dem Herrn,
der recht richtet. Er ist "selig", weil er "in
dem Herrn starb", "von dem Augenblick seines
Todes an." "Er ruht von seinen (lästigen) Ar=
beiten. Ihm ist ein angenehmer, wohlthätiger Wir=
kungskreis eröffnet." "Seine Werke folgen ihm
nach. Er erndtet, was er hier gesäet hat."
- [15,5 mm sic]
II.
Nicht bloß das Leben von christlichen Männern muß
Christen im Andenken erhalten werden, sondern auch
das Leben von christlichen Frauen, wenn diese auch
ihr Licht nicht, wie die Männer, im Kreise einer
- 13 -
ganzen Gemeinde, wohl gar eines ganzen Landes,
oder ganz Deutschlands, sondern bloß in dem kleinen
Kreise ihres Hauses leuchten lassen konnten. Desto
leichter blieb ihr Seyn und Leben rein; desto weni=
ger kamen sie in Versuchung, eitel zu werden auf ihr
Gutes, sich selbst darin zu bespiegeln, und - nicht
den Vater im Himmel, sondern sich selbst zu preisen.
Und so bleibe denn auch das Andenken einer ausge=
reiften Christin unter uns im Segen, die vor kurzem
ihren Erdengang vollendete.
Am 22. März d. J. starb nehmlich die treffliche
Gattin des, allen Christen in Deutschland und mehreren
Ländern bekannten, ehrwürdigen Jung=Stilling, an einer
lange dauernden, am Ende aber unheilbar
gewordenen Lungensucht, nachdem sie 22 Jahre unter
unausgesetzten, nur im tiefen Schlaf aufhörenden
krampfhaften Schmerzen am Hals und in der Brust
gelitten hatte. In ihr lebte eine so schöne Dreyeinheit
von Sanftmuth, Geduld und Liebe, wie sie der
Verf. dieses, der sie zehen Jahre kannte und
ehrte, noch nie gefunden hatte. Es waren bey ihr
nicht Tugenden, zu denen sie sich etwa durchkäm=
pfen mußte. Sie waren ihr zur Natur geworden.
Schwerlich hätte sie sich ihrer enthalten können,
wenn sie auch verboten gewesen wären. Ihre
Sanftmuth war sich immer gleich. Nie wurde sie
aufgereizt, so viele schiefe, ungerechte Urtheile sie
auch über sich und ihren Gatten hören und erfah=
ren mußte. Die letzteren, so wie schiefe Urtheile
- 14 -
über andere gute Menschen, thaten ihr weh. Sie
konnte Thränen darüber vergießen; aber aufgebracht
wurde sie nicht. Mit zarter Ahnung der Liebe sah
sie voraus, wodurch Jemand zu Heftigkeit gereizt
werden konnte, und mit dem ihr eigenen Scharf=
sinn wußte sie es anzubeugen, meist ohne daß es
der zum Aufreizen Geneigte und der leicht Aufreiz=
bare bemerkte. Oft hab' ich dieß feine weibliche
und ausgebildete Christentalent an ihr bewundert.
Ihre Geduld war unermüdlich, unerschöpflich. Bey
den unausgesetzten Schmerzen, die sie so viele Jahre
litt; beyden peinigenden Kuren, die ihr oft ver=
ordnet wurden, denen sie sich auch willenlos unter=
warf, hörte man nie eine freywillige Klage aus ih=
rem Munde. Bloß wenn man sie fragte, gab sie
eine kurze Antwort, um keine Unwahrheit zu sagen.
Dann wich sie aber meist aus, und fragte nach dem
Befinden anderer Personen so theilnehmend, als ob
diese mehr litten als sie. Oft unterhielt sie die
Menschen, die bey ihr waren, mit der größten
Freundlichkeit und Heiterkeit über das, was diese
interessirte, wenn sie gleich etwa ein Pflaster auf
der Brust liegen hatte, das ihr Blasen zog, und
ihre beständigen Schmerzen noch vermehrte. Und
ihre Liebe! Sie war vielseitig, allumfassend, uner=
müdlich, wie sie Paulus 1 Kor. Kap. 13. beschreibt.
Sie zeigte sich nicht bloß im Geben, Helfen, Er=
freuen, sondern auch eben so lebendig in Nachsicht
und Duldung, im Schonen, Entschuldigen, Ver=
- 15 -
zeihen. So konnte nur die Liebe geben, wie sie
gab; so nur die Liebe erfreuen, wie sie erfreute.
Und sie gab, erfreute, half nicht bloß durch das,
was sie vermochte. Sie war die natürliche Für=
sprecherin jedes Armen, Unglücklichen, Unversorg=
ten. Sie nahm nicht nur das Vermögen, sondern
auch die Talente, den Einfluß, die vortheilhaften
Verbindungen Anderer in Anspruch. Und sie bat
so sanft, so eindringend, so freundlich, daß man
ihren Bitten schwer widerstehen konnte. Sie bat
für die fremdesten Unglücklichen, als ob sie selbst
unglücklich wäre, und für sich bitten müßte. Nie
sah sie einen Splitter in des Bruders, der Schwe=
ster Auge. Keinen Balken hätte sie darin gesehen;
und mußte sie ihn sehen, so wußte sie jeden Feh=
lerhaften mit so viel Theilnahme als einen Kranken
dazustellen und zu behandeln, daß man ihm nicht
zürnen konnte, sondern ihn bedauern mußte. Wie
sie ihren Gatten und ihre Kinder behandelte; wie
sie den Keim der Liebe, des Christensinns in ihnen
weckte, nährte, pflegte, und sich dann labte an
dem aufwachsenden Bäumchen; wie sie ihr vergal=
ten durch Liebe ihre Liebe: dafür hab' ich kein
Wort. Das mußte man gesehen haben an einem
Weihnachtsabend, oder einem Geburtstag. Sie
machte selig und war selig unter den grrößten
Schmerzen. Und diese drey Himmelstalente wur=
den zu Einheit durch Christensinn. Davon ging
Alles bey ihr aus; dahin führte Alles. Anhäng=
- 16 -
lichkeit an Ihn machte sie so liebevoll, so geduldig,
so sanft, und jede dieser Empfindungen brachte sie
Ihm nahe. Dieser Christensinn machte sie auch so
demüthig, erhielt sie so kindlich, daß sie nicht wußte,
was sie that und was sie war; etwas, wodurch
sich Christensinn von jedem andern sittlichen Sinn
unterschieden hat. Ich sah sie manchen schweren
Kampf kämpfen, aber kaum einen so schweren, als
wenn sie tief fühlte, daß irgendwo geholfen werden
mußte, und sie noch durchaus nicht sah, wie ge=
holfen werden könne; etwas, was ihr nicht selten
begegnete, weil sich so sehr viele Menschen an sie
und ihren Gatten wendeten. Der kalte Angstschweiß
stand ihr oft auf der Stirn während eines solchen
Kampfes. Wie wohl wird ihr seyn, dort, wo Al=
les in Harmonie kommt; wo die Kraft des Christen
seiner Liebe gleich ist, weil diese Liebe Sakrament
seiner künftigen Kraft seyn soll; wo wir Ihm
gleich werden sollen, der überall helfen konnte, wo
Er helfen wollte! "Selig war sie, die in dem
Herrn lebte, und in dem Herrn starb, von nun
an, von dem Moment ihres sogenannten Todes an.
Sie ruht von all' ihren Schmerzen, und ihre Werke
folgen ihr nach."
- [engl. Linie 27 mm]