Ein Unbekannter (A. Gumprecht ?) würdigt Jung-Stilling
In dem Buch, zu dem Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) ein Vorwort schrieb,:
"Aus den / Lebenserfahrungen eines Siebzigers. / [Verlagssignet] / Gotha. / Friedrich Andreas Perthes / 1891."
findet sich eine Erwähnung Jung-Stillings.
Angeblich erschien die erste Auflage dieser Lebenserfahrungen 1871, jedoch ist sie nicht nachweisbar. Die Druckgeschichte scheint verwickelt, wird doch einmal die Ausgabe 1891 genannt mit der Angabe, erste Auflage zu sein, wenn die für 1894 als zweite Auflage gilt und eine dritte Auflage 1896 erschienen ist. Andererseits wird 1894 auch als 2. Auflage bezeichnet. Möge die Fachwelt hier helfen!
Vgl. Markus Hänsel: Die anonym erschienenen autobiographischen Schriften des neunzehnten Jahrhunderts. Bibliographie. Mit einem Nachweis für die Bibliotheken Deutschlands. München usw.: Saur 1986, S. 142, Nr. 1172.
Hier der Jung-Stilling betreffende Text:
S. 173-176 findet sich in dem genannten Buch der Abschnitt:
64.
Jung Stillings Trübsinn. Plötzlicher Umschlag.
Die Lebensgeschichte Jung-Stillings, wohl eines des gottergebensten Menschen der neueren Zeit, ist wie wenige Bücher geeignet, das Vertrauen in die göttliche Führung auch des einzelnen, nicht bloß der Menschheit im großen und ganzen, zu stärken, religiös und ethisch zu befestigen. Dieses merkwürdige Leben ist eine Kette von Ungemach und Kümmernissen jeglicher Art, peinlichsten Körper= und Seelenschmerzen, Demütigungen, Kränkungen, sogar durch Nächststehende und Verehrte, eine Kette bitterer Armut, unaufhörlich drängenden Gläubigern, quälen= [S. 174:] den Zweifeln an der eigenen Berufstüchtigkeit, Gewissensskrupeln, schweren Familiensorgen, Krankheiten und Kränklichkeit. Daneben wurde ihm viel Anerkennung, Hochschätzung, enthusiastische Bewunderung von hervorragenden Männern und Frauen zuteil, innige Freundschaften, glänzende Erfolge in der ärztlichen, akademischen und litterarischen Thätigkeit. So erklärt es sich, daß dieser hochbegabte und dabei kindliche Mensch die ganze Skala der Empfindungen von völliger Verzweiflung bis zu trunkener Seligkeit fort und fort durchlief. Die vorherrschende Stimmung, sein schlimmstes Leiden scheint tiefe Melancholie gewesen zu sein. Einmal wurde er aus dieser Höllenqual dadurch gerissen, daß der Wagen, in dem er mit den Seinigen saß, umstürzte, zerbrach und er jämmerlich zugerichtet ward: — „ungeachtet der heftigen Schmerzen ... fühlte er plötzlich eine Ruhe und Heiterkeit, eine erhabene Freude, wie er sie noch nie empfunden.“ In der That ein Vorgang, der echten Stoff zu Betrachtungen über Seelenzustände giebt! – Nichts konnte zwar seine Glaubenszuversicht erschüttern. Er klammerte sich mit seinem ganzen Gemüt an den Ewigen, und der ließ ihn nicht im Stiche.
In den unteren geistigen Schichten hört man kaum über Schwermut klagen; ihre Traurigkeit oder Verdrießlichkeit hat immer bestimmte nachweisbare Ursachen, überhaupt ist ihre Seelenbeschaffenheit gleichmäßiger. [S. 175:]
Christliche Gemüter aller Bildungsklassen halten sich vor Augen, „welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er“ und besitzen daran einen Tröster, der sie zwar viele dunkle, beschwerliche Wege führt, sie aber doch nicht verzweifeln und endlich die enge Pforte finden lässt.
Jung Stillings „Heimweh“ sucht dies näher auszuführen und tief einzuprägen. Das Buch umfasst nicht weniger als fünf Bände, darunter einen Band Schlüssel. Es ist, wie es scheint, vom heutigen Geschlecht völlig vergessen. Wer sich aber durch die breite, veraltete Sprache und andere Schwächen nicht abschrecken lässt, wird den Verfasser lieb gewinnen, viel Leidensmut und Zuversicht aus dem Buche schöpfen.
Goethe war bekanntlich Stillings Jugendfreund und gab den ersten Teil seiner Biographie heraus. Er bezeugt von ihm: „... Wenn man ihn näher kennen lernte, so fand m an in ihm einen gesunden Menschenverstand, der auf dem Gemüth ruhte und sich deswegen von Neigungen und Leidenschaften bestimmen ließ, und aus eben diesem Gemüt entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Wahre, Rechte in möglichster Reinheit. ... Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hilfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Noth, von jedem Übel augenscheinlich bestätigte. Jung hatte dergleichen [S. 176:] Erfahrungen in seinem Leben so viele gemacht, daß er mit der größten Freudigkeit ein zwar mäßiges aber doch sorgloses Leben führte. ... Daß übrigens Herders [..., Me] und erzeigten uns wechselseitig die freundlichsten Dienste.“ (Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.)
***