- Zugriffe: 69664
(Friedrich Christoph Schlosser:) Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zjm Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung. Von F. C. Schlosser, Geheimenrath und Professor der Geschichte in Heidelberg. - Dritter Band bis 1788. Zweite Abtheilung. Vom Anfange des Seekriegs in Europa um 1778 bis zum Mai 1788. - Heidelberg, academische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr. 1843.
Kapitel 3, 2: "Deutsche Literatur in Rücksicht auf öffentliches und häusliches Leben, auf den Ton der Gesellschaft und herrschende Sitten."; darin S. 173-229 "§ 4. Lessing und Herder. Verständiges und poetisches Christenthum. Lavater und Lichtenberg. Schwärmerei und Satyre. Musäus, Pfenninger, Jung=Stilling.
S. 226:
"Einen mächtigen Gehülfen erhielten die Schweizer Theologen an einem Schneidergesellen, der sich hernach mit Augenquacksalberei abgab, bis er endlich Staatsökonom wurde. Diesem war die Art, wie Lavater Gott und seine Vorsehung handgreiflich machte, viel natürlicher als dem Schweizer Theologen. Jung Stilling nämlich ward durch Göthe [Goethe], Herder, Lavater, also von ganz verschiedenen Geistern zu einer Bedeutung unter unserer Nation gebracht, die mehr auf seinen sonderbaren Schicksalen und auf der in ihm personificirten und später im idyllischen und sentimentalen Styl seiner Zeit vorgetragenen Denkart und Lebensweise einer gewissen Classe unseres geringen Volks, als auf irgend einer ausgezeichneten Geisteseigenschaft beruhte. Die Menschenclasse, welche Jung Stilling repräsentirt, abgetrennt von allen andern Menschen, ist blos in Westphalen aus der Bibel, die sie gerade so versteht, wie das Wort lautet, belehrt und gebildet, sie hat Theil an jenem Geiste der Betrachtung, der in Westphalen seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts fortlebt, und noch jetzt im Wupperthale seine Metropole hat, diese mußte nothwendig den Ansichten Lavaters ganz ausschließend huldigen. Diese Leute haben von der Gottheit und von der Vorsehung eine fixe, seit mehreren Jahrhunderten überlieferte Idee, welche sowohl der Publicist und geübte Weltmann Pütter [Me: Johann Stephan Pütter, 1725-1807], als der Schneider und von der Welt entfernte Jung Stilling mit der Muttermilch eingesogen hatten. Sie, wie die Juden, von denen sie im A. T. lasen, konnten nichts Befremdendes darin finden, daß der Gott der Christen eine Art menschlichen Körpers habe, daß er fortdauernd körperlich und sinnlich die Menschen regiere, und gewissermaßen am Schopf halte. Diese Ansicht ist poetischer als die der Gebildeten, von ewigen unwandelbaren Gesetzen, von einer nur im Begriffe ge= [S. 227:] gebenen und zu ergreifenden Gottheit und führt doch am Ende den Denkenden zu demselben Resultat. Ein Mann, wie Jung Stilling, der in jedem Schritt und in jeder Handlung nach dieser Ansicht verfuhr und wirklich, nicht affectirt, jede Geldhülfe, die ihm zu rechter Zeit kam, als ganz unmittelbar von Gott kommend ansah, war Dichtern, wie Herder und Göthe, daher eine merkwürdige Erscheinung. Die Art, wie er das Leben auffaßte, wie er seine Schicksale erzählte, wie er die Wege der Vorsehung verstand, schien ihnen eine Idylle und eine Naturpoesie eigener Art, weil sie nicht gemacht ward, also nicht durch das Kunstgebilde der Form den Hörer gewann, sondern wie ein Gewächs aus einem ganz eigenthümlichen Boden entsproß.
Das war es, was die Dichter, die Jung Stilling persönlich kennen lernten, bewog, ihn zu vermögen, sein Leben zu schreiben oder vielmehr sein Beginnen, seine Ansicht des Lebens dem Publicum mitzutheilen, zu unterstützen, so wenig er auch der Sprache der gebildeten Welt damals noch mächtig war. Sein Styl paßte zu der Art Geschichte, die er schrieb, sehr gut, und der erste Theil seines Lebens wird immer das Beste unter seinen vielen Büchern bleiben. Vier Theile eines solchen Lebens waren freilich zu viel; die beiden ersten 1778 und 1779 unter dem Titel: Jung Stillings Leben und Wanderschaft erschienenen Bände enthalten jedoch unstreitig eine anziehende, aus Wahrheit und Dichtung gemischte, fromm empfindsame Idylle ganz eigener Art. Ein Leser, der der gedrechselten Perioden und der abgedroschenen Empfindungen und Verwicklungen der zahlreichen Romane, der lächerlichen Sprünge der damaligen Kraftgenies und der nachherigen Romantiker, so wie der oft an Betrunkene erinnernden Verzerrungen der sogenannten Humoristen müde und überdrüßig ist, sieht sich durch Jung wenigstens in die Natur gebracht, wenn diese auch oft an unreinlichen und sumpfigen Stellen nicht gerade lieblich ist. Man wandert trotz des elenden Styls, der durchaus unedlen Sprache und der oft gemeinen Ansicht des edelsten Theils vom menschlichen Wesen und Streben nicht ungern an der Hand des ori= [S. 228:] ginellen Mannes durch verschiedene Stände, Orte, Verhältnisse, mit denen man, wenn man in Städten erwachsen und auf die gewöhnliche Weise gebildet ist, ganz unbekannt bleibt. Der Ton biederer Herzlichkeit, das Tröstende, welches der Verfasser in allen den sonderbaren Lagen seines Lebens findet, wenn er vom wandernden Schneidergesellen zum Freunde des vortrefflichen Carl Friedrich von Baden nach und nach durch die Fügung der Umstände, oder, was einerlei ist, durch die Vorsehung hinaufgeführt wird, söhnen uns mit der frommen, darin herrschenden Klugheit aus, welche sehr geschickt Gott und alle Menschen als bloßes Werkzeug zum Dienst einer ganz kleinen Person zu gebrauchen versteht.
Unstreitig ist übrigens, daß Stillings Leben und Wanderjahre, besonders jedoch nur die zwei ersten Theile, in jener bewegten Zeit Epoche machten und gewissermaßen einen ganz eigenen Kreis von Leser anzogen. Die Ansichten des Verfassers waren nämlich noch die des Volks ganzer Gegenden und Provinzen von Deutschland; die Stifter der neuen Literatur waren diesen zu hoch, oder diese Literatur selbst ihnen zu weltlich, die Vorstellung eines Gottes, der jeden einzelnen Menschen am Seil führt, war so bequem, Jung Stilling erhielt daher in Deutschland, wie Pfenninger in der Schweiz, bald weit mehr Gewicht, als ihre Kenntnisse, ihre Fähigkeiten und die Form, die sie ihren Schriften geben konnten, verdienten. Darauf gründete denn freilich Jung Stilling, der nach der Bekanntmachung seiner Jugendgeschichte zünftiger Gelehrter oder Universitätsprofessor geworden war, eine Buchmacherei, mit der wir hier nichts zu thun haben. Alle seine, seitdem als Fabricate gefertigten mystischen Romane gehören nicht der allgemeinen Literatur, sondern einer ganz besondern Gattung an, welche für die Leute besonders bestimmt ist, denen das gewöhnliche Tageslicht an den Augen wehe thut, die sich deshalb gern in ein Helldunkel oder gar ganz ins Dunkle stellen. Wir schweigen daher vom Florentin von Fahlendorn, vom Leben Theodors [sic] von der Linden, von Theobald oder die Schwärmer. Nur über das letztere Buch müssen [S. 229:] wir für den, der die Mystik jener Zeit und ganz besonders die Rosenkreuzerei, welche der König Friedrich Wilhelm II. in ihren Netzen hielt, kennen und verfolgen will, bemerken, daß er dort sehr brauchbare Notizen findet. Man lernt nämlich aus diesem Roman eine bedeutende Anzahl der Geheimnißkrämer und Mystiker kennen, welche in jenen Zeiten in den Rheinlanden ihr Wesen trieben, und lernt von dem leichtgläubigen Jung Stilling, wie man ganz ernsthaft und als wenn man Documente vor sich hätte, die Geschichte dieser Mystik, die leider! nur zu viel von Gaunerei in sich und an sich hatte, von Moses, Zoroaster und der Aegyptischen Priesterschaft, vermöge der Tempelherrn des Mittelalters zu Christian von Rosenkreuz herabführte."