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Arnold Ruge (1802-1880) veröffentlichte 1846 „Unsere Classiker und Romantiker seit Lessing“. Darin behandelt er auch Jung-Stilling. Ruge schreibt:

"4. Jung Stilling.
l740 – 1817.
Jung Stilling, obgleich eine naivere, reinere und bei weitem nicht so widerspruchsvolle Natur, wie Hamann, hat doch mit diesem in manchen Stücken eine Aehnlichkeit, die nur aus den gemeinsamen Zeiteinflüssen zu erklären ist. Dahin gehört zunächst jene ganz apart christliche Disposition des gläubigen Gemüths, Alles, auch das Geringste direct auf Gott zu beziehen, in Allem Gottes ausdrücklichen Willen zu sehen, alle Einfälle des naturwüchsigen Menschen und alle Thorheiten, in denen er von der Vernunft abfällt, als directe Einwirkungen Gottes zu betrachten und Andern gegenüber geltend zu machen, in allen Krümmungen und Zufälligkeiten des Geschicks, anstatt den wahren Grund und Ausgang in den analogen Krümmungen und Irrsalen des Gemüths zu suchen, eine unmittelbare Führung Gottes zu erblicken. Hamann braucht die widrige Manier dieser religiösen Rohheit mehr zur Vorspiegelung und Selbsttäuschung, um sich gegen die Freunde ins Gleichgewicht zu setzen und darin halten zu können. Stilling aber, der ohne ein besonnenes, auf wahrer Selbsterkenntniß beruhendes Streben, ohne Festigkeit und Sicherheit eines gebildeten Charakters, sich aus einem Beruf in den andern wirft, identificirt bei jeder Veränderung der Lebensweise, die er willkürlich herbeiführt, seinen Entschluß mit Gottes ewigem Rathschluß, und macht, in naiver Selbsttäuschung und in fortgesetztem Widerspruche mit diesem Bekenntniß selbst, immer von Neuem geltend, ‚dies und nichts Anderes habe Gott mit ihm vorgehabt.’ Dieselbe Vorstellung von der Einheit des göttlichen Rathschlusses mit den particulärsten Zuständen und Verhältnissen des einzelnen Menschen liegt in der Bedeutung, welche Jung Stilling und ‘die Stillen im Lande’ (die sich unter anderen Formen und Namen bis auf den heutigen Tag erhalten haben) der Kraft des Gebetes geben. Das Beten spielt eine große Rolle in Stilling's Confessionen. Es ist bei Stilling und ihm gleich disponirten Geistern die Anstrengung, Gott gegenüber sich in seinen Wünschen und Launen zu behaupten. Bei jeder Wendung des Lebens, bei jedem wichtigen Lebensmomente wird ‘mit Gott gerungen,’ um ihn zu den Wünschen und Bedürfnissen des befangenen Herzens herüberzuziehen, man ‘läßt ihn nicht los,’ man sucht ihn nach Art der Alten zu ermüden (fatigare deum precibus), um ihn willfährig zu machen, daß er dem, was das liebe Ich sich in den Sinn gesetzt hat, nachgebe, damit schließlich nicht sein, sondern der Wille des Beters geschehe. Stillings Leben giebt die fortgesetzten erbaulichen Proben auf diese Theorie von der Kraft des Gebets. Man darf ihm zugestehn, daß er die Sache nicht unrichtig gefaßt hat. Er nimmt sich nur die Freiheit, mit seinem Beten wirklich etwas ausrichten zu wollen, und die Jacobische Anschauung der unmittelbaren Einheit des Glaubens mit Gott wird von ihm in seine Lebenspraxis übersetzt. Er erzählt nun der Welt, daß er die Sache immer richtig gefunden habe.
Den Abschnitt aus seinem Leben, Heinrich Stillings Jugend, hatte er in Straßburg seinen Freunden mitgetheilt, und es war Göthe [Goethe], der ohne sein Wissen den Druck bewirkte und durch das Glück dieses allerliebsten pietistischen Epos, in welchem selbst der lenkende Gott, den man damals nach Homers Vorgang durchaus haben wollte, nicht fehlte, Jungs Zug zur Schriftstellern entschied. Es war gewiß leicht zu beobachten gewesen, daß er nicht selbst handeln, sondern geführt und bestimmt sein wollte, damit die Vorsehung es gethan haben möchte, besonders wenn es gerieth, wogegen es nicht hätte sein sollen, wenn es übel ausschlug.
Als seine Großmutter ihm nach einem bösen Auftritt mit dem Vater kräftig zuredet und aus seiner Neigung zu den Büchern noch eine bessere Zukunft für ihn ableitet, glaubt er ‘aus der dunklen Gruft seines Großvaters ein Orakel zu hören, es war als wenn er entzückt wäre, und hörte ganz deutlich: ‘sei getrost, Heinrich, der Gott deiner Väter wird mit dir sein!’
Er geht nun und wird Gesell bei einem Schneidermeister, mit dem er ganz harmonirte und völlig glücklich und zufrieden lebte. Da kommt der Drang, der ihn zu einem höheren Beruf und schließlich zu seiner religiösen Wirksamkeit treibt, unmittelbar aus den Wolken. ‘Etwa mitten im Junius ging er an einem Sonntag Nachmittag durch eine Gasse der Stadt Schauberg; die Sonne schien angenehm und der Himmel war hie und da mit einzelnen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch sonst etwas Sonderliches in Gedanken; von ungefähr blickte er in die Höhe und sah eine lichte Wolke über seinem Haupte hinziehn; mit diesem Anblick durchdrang eine unbekannte Kraft seine Seele, ihm wurde innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe und konnte sich kaum enthalten, daß er darniedersank; von dem Augenblick an fühlte er eine unüberwindliche Neigung, ganz für die Ehre Gottes und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben. Auf der Stelle machte er einen festen, unwiderruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich seiner Führung zu überlassen und keine eitlen Wünsche mehr zu hegen, sondern, wenn es Gott gefallen würde, daß er lebenslang ein Handwerksmann bleiben sollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu sein.’
Es ist klar, daß er hofft, Gott werde es nicht gefallen, schon um seiner eignen Ehre willen, zu der unser Stilling sich nicht umsonst mit ihm verbündet, als er die Wolke sieht.
Er wird nun Informator bei einem Kaufmann, muß aber dabei so furchtbar eingesperrt leben, daß er sich ganz aufreibt, krank und unglücklich wird und endlich durch Wald und Feld davonläuft. Nun ist er aber sehr übel daran, ohne Nahrung, fast ohne Kleidung und ohne Geld ‘in einer Einöde, wo er weit und breit keinen Menschen kannte.’ Sollte Gott seinen Bund mit ihm vergessen haben? ‚Jetzt also fing er an und sagte bei sich selber: ‘Nun bin ich auf den höchsten Gipfel der Verlassung gestiegen; es ist jetzt nichts mehr übrig, als betteln oder sterben: – das ist der erste Mittag in meinem Leben, an welchem ich keinen Tisch für mich weiß! ja, die Stunde ist gekommen, da das große Wort des Erlösers für mich auf der höchsten Probe steht: Auch ein Haar von eurem Haupte soll nicht umkommen! – Ist das wahr, so muß mir schleunigst Hilfe geschehen, denn ich habe bis auf diesen Augenblick auf ihn getraut und seinem Worte geglaubt; ich gehöre mit zu den Augen, die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speise gebe und sie mit Wohlgefallen sättige ; ich bin doch so gut sein Geschöpf, wie jeder Vogel, der da in Bäumen singt und jedesmal seine Nahrung findet, wenn's ihm Noth thut.’ Stillings Herz war bei diesen Worten so beschaffen, wie das Herz eines Kindes, wenn es durch strenge Zucht endlich wie Wachs zerstießt, der Vater sich wegwendet und seine Thränen verbirgt. Gott! was das Augenblicke sind, wenn man sieht, wie dem Vater der Menschen seine Gingeweide brausen, und er sich vor Mitleiden nicht länger halten kann! -’
Jung kommt in die Stadt, findet einen Meister, geht gleich mit zu Tische und – der Meister ist fromm. ‘Als er dies merkte, sing er ganz unvermuthet hinter dem Tisch an laut zu weinen und zu rufen: ’,O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus!’ Alle Anwesenden erstarrten und entsetzten sich; sie wußten nicht was ihnen widerfuhr. Meister Isaac sah ihn an und fragte: Wie ist's Stilling? (er hatte ihm seinen Namen gesagt.) Stilling antwortete: ‘Ich habe lange diese Sprache nicht gehört und da ich nun sehe, daß Sie Leute sind, die Gott lieben, so weiß ich mich vor Freude nicht zu lassen.’ Meister Isaac fuhr fort: Seid Ihr denn auch ein Freund vom Christenthum und von wahrer Gottseligkeit?’
Meister Isaac nimmt sich seiner fast über seine Kräfte an und kleidet ihn ganz neu. Dies soll ihm noch am jüngsten Tage zu Gute kommen. ‘Wenn einmal die Stimme über den flammenden Erdkreis erschallen wird: Ich bin nackend gewesen und ihr habt mich bekleidet! so wirst auch du dein Haupt empor heben, und dein verklärter Leib wird siebenmal heller glänzen, als die Sonne am Frühlingsmorgen!’ – So viel Einfluß hat der fromme Schriftsteller bei Gott erlangt.
Göthe [Goethe] hatte in Straßburg einen besondern Gefallen an diesem naiven Dichter und guten Jungen. Als die Andern ihn aufziehn, nimmt er sich seiner an und sagt: ‘Probire doch erst einen Menschen, ob er des Spottes werth ist; es ist teufelmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der Keinen beleidigt hat, zum Besten zu haben.’ Die Gesellschaft von Göthe, Lenz und Herder, ‘unter denen sein Enthusiasmus für die Religion kein Hinderniß war, weil sie keine Spötter waren, wenn sie auch freier dachten,’ bildete ihn sehr und erweiterte seinen Gesichtskreis. ‘Wenn aber jemals ein Geist einen Stoß bekommen hat zu ewiger Bewegung, so bekam ihn Stilling von Herdern, und das darum, weil er mit diesem herrlichen Genie, in Ansehung feines Naturells, mehr harmonirte als mit Göthe.’
Alle Gründe gegen Bibel und Christenthum, die er täglich hört, erschüttern ihn nicht. Er weiß, wie er mit seinem Gott steht; und so weich und fügsam, so schwach und frauenartig er zu sein scheint, so entschieden verfolgt er seinen Weg, unmittelbar mit seinem Beispiel für die Religion zu wirken und Gott die Probe, ob er den Bund mit ihm halte, immer von neuem, versteht sich glücklich, bestehn zu lassen. (Er stirbt als badischer Geheimer Hofrath).
Seinen Willen, den er bei seinem Gott durchsetzt, weiß er natürlich noch besser gegen die gottlose Welt zu behaupten. Er will mit der Aufklärung nichts zu thun haben, erklärt sich frischweg, wie Hamann, für die orthodoxeste Dogmatik, und ist ein entschiedener Feind des Sebaldus Nothanker von Nicolai und aller Bestrebungen der Aufklärer *); doch mit dem Unterschiede von Hamann, daß, wenn Jener neben der Caprice, orthodox zu sein, weil es Andere nicht sind, die größte formelle Freiheit behauptet, und von einem tiefen speculativen Instinct gegen die einseitigen Abstractionen der Verstandesbildung gehetzt wird, bei Stilling alle wahrhaft philosophischen Motive wegfallen, und die auf Andere reflectirende Caprice lediglich durch die gutmüthigere, wenn auch desto beschränktere Form vertreten wird, Alles, woran nun einmal Eltern und Voreltern glaubten und was durch Geburt und Erziehung ein Theil seiner Person geworden, als absolute Wahrheit festzuhalten und sich ‘um Alles in der Welt nicht nehmen zu lassen’. Er will nicht; es ist wider sein Gefühl und seine Disposition.
Auch die Lust an grotesken Ideen und den Selbstgenuß in lebhafter Empfindung hat Jung mit Hamann und andern, von jener eigenen Gemüthseligkeit und ungebundenen Phantasieschwelgerei der Zeit ergriffenen Geistern gemein. Im zweiten Theile seiner Lebensbeschreibung erzählt er, wie er durch einen alchymistischen Förster mit Paracelsus, Graf Bernhard, Jacob Böhm, ‘deren Bücher ihm große Heiligthümer waren,’ bekannt worden sei. ‘Stilling fand Geschmack daran,’ heißt es sodann, ‘nicht bloß wegen des Steins der Weisen, sondern weil er ganz hohe und herrliche Begriffe, besonders in Böhm, zu finden glaubte; wenn sie das Wort: Rad der ewigen Essenzien, oder auch schielender Blitz und andere mehr aussprachen, empfanden sie eine ganz besondere Erhebung des Gemüths. Ganze Stunden lang forschten sie in den magischen Figuren, und meinten, die vor ihnen liegenden Zauberbilder lebten und bewegten sich; das war denn so rechte Seelenfreude, im Taumel groteske Ideen zu haben und lebhaft zu empfinden!’
Dieses Schwelgen in den Abenteuern einer irrlichterirenden Phantasie und in den dunkeln Tiefen des in sich gährenden Gemüths hatte Stilling früher in leidenschaftlicher Beschäftigung mit den sogenannten Volksbüchern und Volksliedern befriedigt. Die innigen und zarten Empfindungen, die Gewalt und der Natürliche Ausdruck der Leidenschaften, wie sie in vielen jener Productionen zum Vorschein kommen, mußten in einer Zeit, die sich aus einer schalen, nur auf das Formelle gerichteten Poesie zu befreien noch im Begriff war, selbst den freiesten Geistern jene Ueberlieferungen werth machen; und auch jetzt noch wird man, eben so wenig wie an Paracelsus und J. Böhm, nur ein historisches Interesse an ihnen nehmen, sondern in vielen derselben einen unverwüstlichen Kern entdecken und genießen; aber unfreiere Geister, wie Stilling in seiner Jugend war und wohl auch immer geblieben ist, werden gerade durch das angezogen, was das Unwahre, der schlechte Bodensatz an dergleichen Productionen ist. Das Nebulose, das Räthselhafte, das dunkle Gemüth, welches sich nicht ausdrücken kann, das trübe Gähren der Empfindung, die willkürliche Phantastik, das sind die Elemente, in welchen der ungebildete Gemüthsmensch sich wiedererkennt, seine eignen Schrullen empfindet und liebt, und Letzteres um so mehr und um so lebhafter, als der Mensch, wie er geht und steht, nichts so apart für sich hat, als eben seine Schranken.
Auch hierin ist Jung Stilling wie Hamann die Uebersetzung der Jacobischen Theorie in die Praxis.

*) Heinr. Stilling's sämmtliche Schriften, I. Stuttg. 1835."

 

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