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Lavater und die „Siegsgeschichte“


VÖMEL: Briefe S. 56-58 ediert einen Brief Lavaters an Jung-Stilling, der eine geharnischte Kritik an der Siegsgeschichte enthält (die später – siehe unten – in einer Zeitschrift wiederholt wird.).

Gotthilf Stecher meint S. 242 seiner Arbeit, dass die "Siegsgeschichte" "mit vollem Recht von Lavater unverblümt verworfen" worden sei. Lavaters Brief lautet:

"Schinznach, den 5. Juni 1800.
Lieber Bruder Jung!
[...]
So äußerst ungern ich mich mit einem Freund und Bruder wie Du bist, dem ich zehnmal mehr Einsicht und Wissen zutraue als mir, in einen auch noch so freundlichen Streit einlasse, und so sehr meine Freunde an Deine Unbelehrbarkeit über gewisse Punkte glauben, so scheint es mir dennoch unsre männlich=christliche Freundschaft und die heilige Wahrheitsliebe zu fordern, Dir über einen einzigen Punkt Deiner "Siegsgeschichte", den der Berechnung der Tierzahl, meine Zweifel vorzulegen. Ich bescheide mich gern, von prophetischen Rechnungen nicht das mindeste zu verstehen, obgleich ich Gründe habe, an keine zu glauben, indem zehnmal klarere über Daniel, die den Klügsten unwidersprechlich schienen, viel unwidersprechlicher als Bengels äußerst künstliche und unpoetische, fehlschlugen, wo kein Fehlschlag möglich schien. Dessen ungeachtet bin ich neuen Belehrungen offen, wenn sie mich auch nur wieder die eitele Eitelkeit aller dieser Bemühungen aufs neue fühlen ließen. Aber mich dünkt, daß ich zu allem in der Welt eher beredbar sein könnte, als zur Annahme der Bengel=Jungischen Tierzahl=Berechnung.
A.
Mich dünkt, eine Jahrzahl, Zeitzahl, Dauerzahl ganz eigenmächtig und völlig willkürlich da unterschoben, wo keine Spur von Zeit und Dauer ist. [S. 57:]
Ich kann nicht begreifen, wie Männer wie Bengel und Jung nicht klarer als klar sehen, daß in der ganzen Apokalypse, wo eine Zeit oder Dauer bezeichnet ist, Jahre, Monate, Tage ausdrücklich angegeben sind. Nur hier findet sich kein Zeichelchen von Zeit, und dennoch wagt man's, hier Zeit hineinzuphantasieren, und diese Zeit ebenso willkürlich auf Jahre und diese auf gemeine Jahre zu bestimmen. Hier finde ich wenig Weisheit noch Verstand. Ich finde einen bodenlosen Ort als Fundament eines Gebäudes angeraten, ich finde nichts als pure Imagination.
B.
Ferner, Lieber, ist mir völlig unerklärbar, wie solche Männer mit solchem Respekt für die Bibel, und Bengel besonders mit seinen geschmacklosesten und illiberalsten Pedantismus für jedes Wort der Bibel, das ausdrücklich beigefügte, alles bestimmende, jeden Mißverstand sogleich abschneidende Wort: "Es ist eines Menschen (also nicht eines Reiches, einer Kommune, einer Kirche, einer Gesellschaft), es ist eines Menschen Zahl" mit solcher Mißachtung oder Kaumachtung übergehen konnte.
C.
Je mehr ich nachdenke, desto weniger kann ich Weisheit und Verstand darin finden, diese ausdrücklich als Menschennamenszahl angegebene Zahl in eine Dauerzahl verwandelt zu sehen, wenn ich nachher von einer Anbetung oder göttlichen Verehrung einer (zumal zum Ende gehenden) Dauerzahl lese. Wie man eine solche anbeten könne, ist mir undenkbar; aber gar nicht undenkbar, wie man ein Symbol, einen Namen, eine Chiffre göttlich verehren könne.
D.
Nichts von dem zu sagen, wie unnatürlich, lächerlich und toll es wäre, wenn eine hierarchische Macht die Jahrzahl ihrer Dauer, mithin ihres Untergangs, zu ihrer Anbetungs=Chiffre machen würde. [S. 58:]
Nichts zu sagen von dem so willkürlich wie möglich angenommenen Zeitpunkt der Hierarchie (die ihre Dauer auf 666 selbst bestimmen soll. Denn diese Chiffre ist ja das Werk, das Gebot, die Vorschrift derselben). Welcher Sterbliche will den Terminus a quo, den ersten Punkt, von dem notorisch ausgegangen wird, evident angeben? Schon Diotrephes zu Johannes Zeit war ein entschiedener gewaltiger Hierarch, und von Wölfen die der Herde nicht schonen werden, spricht Paulus.
Kurz, Willkürlicheres, Gezwungeneres, Unjohanneischeres, dem Texte Widersprechenderes kann ich mir nichts denken, als diese Rechnung. So urteilen ich und zwanzig der weisesten und christlichsten Freunde, und ich kenne nicht einen, der anders urteilt.
Lieber Bruder - wie, wenn Du Stärke des Geistes genug hättest, diese ganz unnatürliche Gezwungenheit einzusehen, zuzugestehen und zurückzukehren?
Nimm mir doch meine Aufrichtigkeit nicht übel; ich ehre und liebe Dich doch wie wenige, wenige Menschen ...
(Dem Briefe fehlt der Schluß und die Unterschrift.)"


Ausführlich antwortet Jung-Stilling auf diesen Brief am 21. Juni des Jahres; siehe Edition Schwinge S. 247-252 (s. ebd. S. 241-242).

Jung bleibt bei seiner Meinung, wenn "Dies erhabene Buch" auch noch ausgearbeiteter werden muß (H. 9, S. 179) – und schreibt im Grauen Mann, H. 8, 1800, S. 82 f.:

"[...]  3. Ich habe Ursach kindlich und in tiefster Demuth dem HErrn zu danken, daß Er einen so ganz unverdienten Seegen auf die Siegsgeschichte gelegt hat. – Dies Buch immer mehr und mehr zu vervollkommnen, und die hohe Offenbarung Johannis immer klärer zu enthüllen, wollte ich anfänglich hier, in jedem Heft des grauen Manns, hinten in ein paar Blättern, Nachträge zur Siegsgeschichte anhängen; allein die Materien, die ich schon []S. 83:] schon jezt gesammelt habe, häufen sich so an, daß ich schon künftigen Sommer, so der Herr will, einen besondern Band dieser Nachträge zur Siegsgeschichte, werde ausarbeiten müßen. Ich habe außerordentliche merkwürdige Beweise für die Warheit, der von mir angenommenen Bengelischen Zeitrechnung erhalten; die schärfsten astronomischen Berechnungen unterstützen ihre Richtigkeit; und ausser diesem werde ich noch manches berichtigen, und vieles mit stärkeren Gründen erhärten, was in der Siegsgeschichte als schwankend, oder noch nicht im rechten Licht dargestellt worden. Dies alles mußte ich meinen lieben Lesern so ganz brüderlich ans Herz legen, und nachdem dieses nun geschehen, so wollen wir den ehrwürdigen Ernst Uriel selbst hören. -- [...]"