Johann Heinrich Jung / über den / Revolutions=Geist / unserer Zeit /
zur / Belehrung der bürgerlichen Stände. / - [eL 24 mm] / - [eL 61 mm] /
Marburg, / in der Neuen Akademischen Buchhandlung. / 1793.
O Einführung
O Literaturhinweise
O Text
Eine Rezension aus dem Jahr 1794 (wegen des Umfangs auf einer anderen Seite) O
Eine Rezension vom Mai 1794 (wegen des Umfangs auf einer anderen Seite) O
Diese Schrift Jung-Stillings steht, wie ich zufällig feststellte, als Lektüre auf dem Lehrplan in den Schulen in Berlin. So scheint es mir nicht nutzlos, den Text hier mit Anmerkungen zu veröffentlichen. Man sollte ihn im Zusammenhang mit den anderen Texte sehen, die in diesem Zusammenhang geschrieben worden sind.
Sollte dieser Text verwendet werden, so bin ich für den Hinweis dankbar und werde gern diese Arbeiten unserem Archiv zuführen und hier verzeichnen.
Ein Nachdruck (in Fraktur) des Textes erfolgte 1926:
Untersuchung der Quellen des heut zu Tage allgemein herrschenden Revolutionsgeistes. Von Johann Heinrich Jung Stilling. - In: Siegerländer Heimat Kalender auf das Jahr 1927. 8. Jahrgang. Hrsg. v. Verein für Heimatkunde und Heimatschutz im Siegerlande samt Nachbargebieten. Siegen: Vorländer (1926), S. 84-93.
Siehe auch: Beines, Ralf / Walter Geis / Ulrich Krings (Hrsg.): Köln: Das Reiterdenkmal für König Friedrich Wilhelm III. von Preußen auf dem Heumarkt. Köln: J. P. Bachem 2004. = Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 31. Red.: Ulrich Krings. ISBN 3761617968 / 9783761617960, S. 613 f.
Eine Übersetzung (mit einleitendem Text ) in die italienische Sprache:
[Umschlag und Titelblatt:] “Johann Heinrich Jung Stilling / Sullo spirito rivoluzionario del nostro tempo / a istruzione dei ceti borghesie / e / La famosa profezia di Cazotte sulla Rivoluzione francese / a cura di / Erminio Morenghi / 11 / Quaderni dell’Istituto di Lingue e Letterature Germaniche / Sezione Testi / - / Universit`1 degli studi di Parma / Facoltà di lettere e filosofia / - / Edzioni Zara – Parma 1996 [Schmutztitel:] Titoli originali / Über den Revolutionsgeist unserer Zeit / zur Belehrung der bürgerlichen Stände / Cazotte’s weltberuhmte Profezeiung / von der franzosischen Revolution”; S. (69)-102: “Sullo spirito rivoluzionario / del nostro tempo / a istruzione dei ceti borghesie”
Als Fiche ist der Text Jung-Stillings vorhanden:
"Bibliothek der Deutschen Literatur" (Axel Frey [Bearb.:] Bibliothek der Deutschen Literatur. Bibliographie und Register. Mikrofiche Ausgabe nach Angaben des Taschengoedeke. Eine Edition der Kultur-Stiftung der Länder im K. G. Saur Verlag. München usw.: Saur 1995. ISBN 3-598-50100-5 bzw. –53763-8 = BDL). Box 32, Fiche 14519.
Mikrofiche-Ausg.: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 1993.
Ein Faksimiledruck
der S. 28-40 aus „Über den Revolutionsgeist unserer Zeit“ findet sich S. 193-205 unter dem Titel: „16. Johann Heinrich Jung Über die schimärischen Menschenrechte Freiheit und Gleichheit (1793)“. In: Jörn Garber: Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservatismus. Band 1: Dokumentation. Kronberg/Taunus: Scriptor 1976 = Monographien Literaturwissenschaft [Bd.] 6.
Jörg Meidenbauer: Aufklärung und Öffentlichkeit. Studien zu den Anfängen der Vereins- und Meinungsbildung in Hessen-Kassel 1770 bis 1806. Darmstadt und Marburg: Selbsverlag der Hess. Histor. Kommission Darmstadt und der Histor. Komm. für Hessen 1991 = Hessische Historische Kommission Darmstadt und Historische Kommission für Hessen. Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte [Bd.] 82.
Ein Jung-Stilling-Kenner schrieb über den (der Vollständigkeit halber) hier genannten Aufsatz: „Mit das größte Un=Verständnis gegenüber der naturrechtlichen Denkweise von JSt!“. Jung-Stillings Schrift wird hierin bezeichnet als „Über die Revolution unserer Zeit“:
Hans Klappert: Nur der Glaube an Gott kann helfen. Jung-Stilling über Grund- und Menschenrechte in Theorie und Wirklichkeit. - In: Siegerland. Blätter des Siegerländer Heimatvereins e. V. 66, 1989, H. 3-4, S. 105-108.
Weitere Hinweise finden sich in der „chronologisch geordneten Darstellung zum Leben Jung-Stillings“ hier.
über den
Revolutions=Geist
unserer Zeit
zur
Belehrung der bürgerlichen Stände.
- [eL 24 mm]
- [eL 61 mm]
Marburg,
in der Neuen Akademischen Buchhandlung.
1793.
- [eL]
I.
Untersuchung der Quellen des heut zu Tage
allgemein herrschenden Revolutionsgeistes.
Ob der Trieb nach Freyheit und Gleichheit in
französischem Sinn, und nach dem Genuß dieser
sogenannten Menschenrechte, würklich allgemein
sey? das würde uns die traurigste Erfahrung ge=
zeigt haben, wenn die Franzosen bey ihren Einfäl=
len in Brabant, Teutschland und Savoyen nicht
Brabant: Gebiet zwischen Maas und Schelde, im Nordosten Belgiens und im Süden der Niederlande.
Savoyen: französisch Savoie, italienisch Savoia, historisches Gebiet in den französischen Alpen, an der Grenze zu Italien.
so kopflos und nicht so außerordentlich inconse=
quent gehandelt hätten. Es ist in der That eine
sonderbare Erscheinung, daß gerade jetzt, in einer
Zeit, wo wir uns eines gewissen Grades der Auf=
klärung rühmen, eine allgemeine Unzufriedenheit
mit unseren Regierungen in allen bürgerlichen
Ständen herrschend wird. Haben sich denn würk=
lich unsere Regenten verschlimmert? – sind in
der That die wahren Rechte der Menschheit zu
unsern Zeiten mehr eingeschränkt worden, als zu
den Zeiten unserer Vorfahren? mit einem Wort:
hat der Despotismus zugenommen? Oder: kön=
A nen
2 Untersuchung der Quellen
nen wir nicht auch so fragen? – sind uns nicht
vielleicht die Schranken der Gesetze unleydlicher ge=
worden als unsern Vätern? – haben wir uns
nicht verschlimmert? machen wir nicht Forderun=
gen zu Menschenrechten, die es ganz und gar
nicht sind? mit einem Wort: haben wir bürgerli=
chen Stände alle mit einander, so ganz und zumal
die Kinderschuhe ausgezogen, daß wir nun in der
Staatshaushaltung mitrathen können, oder gar
einer demokratischen Staatsverfassung fähig sind? –
Liebes teutsches Publicum! die Sache ist war=
lich der Mühe werth; last uns doch einmal mit
nüchternem ruhigem und unpartheyischem Gemüthe,
eine genaue Prüfung anstellen, was in diesem Fall,
wo es um nichts geringeres, als unsre ganze zeit=
liche Glücksseligkeit zu thun ist, würklich und ohne
Täuschung Wahrheit sey.
Es stehen hier zwo wichtige Partheyen vor dem
Richterstuhl der gesunden Vernunft und des all=
gemeinen Menschenverstandes, die eine ist, der Re=
gentenstand nebst dem hohen und niedern Adel,
und in den catholischen Ländern, den christlichen
Stiftungen; und die andere ist, die gesammte Classe
der eigentlichen Unterthanen, oder die bürgerli=
chen Stände alle mit einander. Diese letztere Classe
ist Kläger: sie klagt nämlich die erste an, daß sie
ihre
des Revolutions=Geistes. 3
ihre Gewalt misbrauche, den so rechtmäßigen Ge=
nuß der Menschenrechte, vorzüglich der Freyheit und
Gleichheit über die Gebühr einschränke, sich selbst
aber einer Freyheit und eines Luxus anmaaße, wo=
zu sie keinesweges berechtiget sey; sie fordert also
Abschaffung jener Misbräuche, Ersatz der Menschen=
rechte, und Einschränkung ihrer eigenen Freyheit,
und ihres eigenen Genusses.
Darüber sind wir uns doch wohl alle einig,
daß wir zuerst diese Klage im Licht der Wahrheit
prüfen müssen; es fragt sich nämlich:
1) Läßt sich ein Besitz der Macht des Stärkern,
oder der obrigkeitlichen Gewalt ohne wahren
und eingebildeten Mißbrauch denken? – Ge=
wiß nicht! – Wird ja der Allweise und
Allgütige in seiner Machtverwaltung getadelt,
Der Allweise und Allgütige: Gott.
und Ihm ein eisernes Schicksal angedichtet,
wie läst sichs nun fordern, daß ein menschli=
cher Regent, so weise seyn soll, nie seine Gewalt
zu misbrauchen; oder daß er gar seine Dis=
position so klug machen müsse, daß sich auch
nicht einmal seine Unterthanen einbilden kön=
nen, er misbrauche sie?
2) Sind wir über den Begrif der Menschen=
rechte im klaren? Hat die klagende Parthie ge=
nau bestimmt, welcher Grad der Freyheit und
A 2 Gleich=
4 Untersuchung der Quellen
Gleichheit ihr als Menschenrecht zukomme?
Gott! – wie kann doch bey den himmelweit
verschiedenen Begriffen vom Erlaubten und
Unerlaubten, in so viel tausend Köpfen,
allenthalben Gefühl, und Selbstbewußtseyn des
Genusses der Freyheit statt finden? und wo
das nicht statt findet, da klagt man über Druck,
über Einschränkung der Freyheit, und der Men=
schenrechte. Gott! – wie kan bey der unendli=
chen Abstuffung in den Graden des Reichthums,
der moralischen Güte, des Verstandes, der List,
der Verschlagenheit, und der Macht, an eine
nur einen Aucgenblickdauernde [sic; Augenblick dauernde] Gleichheit der
Stände gedacht werden? und
3) Wird’s durch die Einschränkung der Gewalt,
oder Freyheit, oder des Genusses der regieren=
den Familien und des Adels besser werden? –
werden wir dann freyer und gleicher seyn? –
Ich fürchte, diejenigen die in dem Fall die re=
gierende Gewalt mit jenen theilen, sind zehn=
mal ärgere Despoten als die, über welche sich
jezt so bitter beschwert wird. Man beobachte
nur einmal solche Freunde der Freyheit und
Gleichheit in ihrem häuslichen Zirkel und so
weit sie zu befehlen haben, ob sie denn da die
Grundsäze, deren Ausübung sie von ihren Obern=
for=
des Revolutions=Geistes. 5
fordern, selbst befolgen? O sie wissen sich sehr
gut allen möglichen Respekt zu verschaffen! –
sie halten ihre Untergebene sehr genau in den
Schranken der Unterwürfigkeit, und während
der Zeit, wo sie sich keinen Genuß versagen.
müssen ihre Dienstboten bey sauerer Arbeit und
Dienstbarkeit mit der gewöhnlichen Hausmanns=
kost vorlieb nehmen; ist denn das auch der Ge=
nuß der Menschenrechte, den sie von ihren
Obern fordern? und ist ds Freyheit und Gleich=
heit? wie wenn einmal ihr Hausgesinde, oder
überhaupt ihre Untergebene gegen sie aufstün=
den, und Rechenschaft von ihrer Haushaltung
und Gesezgebung forderten und allenfalls mit=
rathen wollten? – wenn sie über jede Pfeife
Canaster, über jede Bouteille Burgunder, oder
Canaster, Kanaster; vgl. Kanister, weil er in Rohrkisten (Körben aus Roh) versandt wird; daraus Knaster = feiner Tabak/Taback, besonders der aus Varinas/Barinas in Venezuela stammende.
Champagner, über jeden Prachtaufwand den
sich ihre Herrschaft erlaubt, murren, maulen
und drohen wollten, wie bald würde man sie
wegjagen, oder bey der geringsten Widersezlich=
keit, die Polizey zu Hülfe rufen? – Wie kan
bey einer solchen unwiderlegbaren Liegenheit
Liegenheit: hier: Beschaffung.
der Sachen, die Parthie der Unterthanen ihre
Obrigkeit und den Adel, wegen begangener
Verbrechen gegen die Menschenrechte verklagen,
da sie selbst überall, wo sie die Macht dazu hat,
den
6 Untersuchung der Quellen
den Despotismus in voller Maaße ausübt? –
Last uns doch erst einmal unsre eigene Augen
von den groben Balken befreyen, damit wir
rein und deutlich sehen können, hernach läst sich
dann auch vom Splitter=Ausziehen in der Re=
Mt 7, 3 et par. – Vgl. S. 13.
genten Augen sprechen; dann wird’s erst drauf
ankommen, ob wir dazu befugt sind? und
wenn wirs wären, obs rathsam sey, sich dieser
gefährlichen Operation anzumaasen.
Das Wissen blähet auf, und der Grad der Auf=
klärung in dem wir uns jezt befinden, mag wohl
die nämliche Eigenschaft haben- Wir besitzen viele
Känntnisse, erstaunlich viele! alle Wissenschaften
sind unläugbar weit vorwärts gerückt; besonders
glauben wir, im politischen Fach grose Fortschritte
gemacht zu haben; jedermann kannegiesert und je=
Kannegießer; kannegiesern: ein beschränkter leidenschaftlicher Zeitungsleser; Geschwätz, schwätzen; bekannt geworden durch Ludwig von Holbein (1684-1754) Leipzig 1749 erschienenes Werk: Der politische Kannegießer.
dermann dünkt sich geschickt zu seyn das Staatsru=
der zu führen. Eine Menge Zeitschriften athmet
diesen Geist, sie zu schreiben und sie zu lesen ist
Mode geworden, daher kommts dann, daß man um
seine Belesenheit und seine Känntnisse zu zeigen,
in allen Gesellschaften über Obrigkeiten und Regie=
rungsfehler loszieht und deklamirt; man fühlt sich
durch diese angemaaste Freyheit gleichsam in höhere
Sphären versezt, und sucht in diesem Räsonniren
den leydigen Ersaz dafür, daß uns die Vorsehung
so
des Revolutions=Geistes. 7
so unverdienter Weise zurückgesezt und nicht zu Re=
genten gemacht hat. Eben durch dieses unaufhörli=
che Reiben der Geister werden sie erhizt, und je
mehr ihre Menge zunimmt, desto mehr wächst das
Sehnen nach Revolution. Stolz ist ihre erste
Triebfeder.
Die zweyte und zwar sehr würksame Quelle des
Revolutions=Geistes finden wir im so sehr über=
handgenommenen physischen und moralischen Luxus;
wir bedürfen heut zu Tage so viel zur Nahrung
Kleidung und Wohlstand, daß die Besoldungen
nicht mehr zureichen wollen, und der bürgerliche
Erwerber nicht ehr so viel gewinnen und beybrin=
gen kan, als er der Mode gemäß braucht. Da nun
auch aus den nämlichen Gründen die Bedürfnisse
der regierenden Familien wachsen, folglich auch von
den Unterthanen mehr entrichtet und bezahlt werden
soll, so sucht man den Fehler nicht in seiner eigenen
Haushaltung auf, sondern man klagt über den Auf=
wand und die Verschwendung der Regenten, und er=
bittert sich über die Grosen, wodurch dann der Re=
volutionssinn eine neue Triebfeder und einen stärkeren
Reiz bekommt. Fast noch stärker, wenigstens eben
so schädlich würkt der moralische Luxus: alles liest
Romanen und Schauspiele; und der Schriftsteller
der Eingang finden und nüzlich würken will, muß
der
8 Untersuchung der Quellen
der Wahrheit ein romantisches oder dramatisches
Kleyd anziehen. In diesem weitschichtigen Felde
der Imagination schaft sich nun der Geist unserer
Zeit lauter Ideale, die seiner Vorstellung vom
Schönen und Guten entsprechen, im Grund aber
Wesen sind, die nirgend existiren und in unserer
gegenwärtigen Welt nicht existiren können; gewöhn=
liche Handlungen rühren uns nicht mehr, der
Schriftsteller der also gefallen, und das Herz er=
schüttern will, muß zum Unerhörten und Erstaunli=
chen seine Zuflucht nehmen; sind wir denn nicht
endlich dahin gekommen, daß die Geisterwelt wie=
der den Stof hergeben muß, wenn wir gerührt wer=
den sollen? – man erinner sich nur an Schillers
Meisterstück den Geisterseher, und an alle die Nach=
Friedrich von Schiller (1759-1805): Aus den Papieren des Grafen von O**; omanfragment von Friedrich von Schiller, erschienen in mehreren Fortsetzungen Anfang 1787 bis Ende 1789 in der Zeitschrift „Thalia“. – Der Geisterseher, eine interessante Geschichte. (Nachdruck) 1789. – 1795 erschienen die „Scenen aus dem Geisterreiche“ von Jung-Stilling.
ahmungen, die daher entstanden sind! – Was kan
nun für ein anderes Resultat dabey herauskommen,
als daß wir alle die überspannten Ideale in die
würkliche Welt übertragen, und sie zum Maaßstab
der Menschen und ihrer Handlungen machen. Wo
uns nun die Schaubühne oder die Lectüre irgend ein
ausgezeichnetes Regentenbild vorstellt, da verglei=
chen wir, und da wir schon ohnehin partheyisch in
Ansehung der oberen Stände sind, so sehen wir
ihre Fehler im hellesten Licht, ihr Gutes aber und
ihre Tugenden stellen wir geflissentlich ins Helldun=
kel,
des Revolutions=Geistes. 9
kel, oder in den stärksten Schatten. Aus dieser
traurigen Stellung des Geistes unserer Zeit, läst
sich nun auch leicht der Menscheneckel erklären, den
man leyder! bey so vielen sonst guten Seelen wahr=
nimmt: sie haben sich ein Ideal vom Menschen ab=
strahirt, das sie nirgends finden, dies macht sie
mislaunigt und oft bis zum Selbstmord unzufrieden;
und eben diese sind gewöhnlich die heftigsten Feinde
der Regenten, und wenn sie selbst nicht adelich sind,
auch des Adels. Groser Gott! warum suchen sie doch
das Ideal der Menschen=Vollkommenheit ausser
sich? – warum bilden sie sich nicht selbst er nach die=
sem Ideal? – wenn sie damit einmal zu Stande
gekommen sind, und sie haben dann noch Muth und
Lust zu räsonniren und zu critisiren, so mögen sie’s
dann thun. Ich besorge aber, wenn wir einmal
bey uns selbst aus [sic; recte ans] Untersuchen und Aufräumen
kommen, so finden wir so viel zu schaffen, daß
wir der Regenten= und anderen Menschen Feier
gerne darüber vergessen.
Die vorzüglichste und fruchtbarste aber auch
furchtbarste Quelle des Revolutions=Geistes finden
wir ferner in der erstaunlichen und warlich beweinens=
würdigen Sittenlosigkeit, ja ich darf wohl sagen
Gottlosigkeit unserer Zeit, die in eben dem Ver=
hältnis gefährlich ist, als sie unbemerkt im Finstern
schleicht:
10 Untersuchung der Quellen
schleicht: die äußerliche Cultur, der Anstand, und
besonders der allgemein berrschende Geist der Wohl=
thätigkeit, womit die eyternden Geschwüre über=
kleistert werden, blenden unsere Augen, daß wir
den tiefen und unheilbaren Schaden nicht wahrneh=
men; wir haben nun alles auf Moral und Men=
schenliebe reduzirt, und warlich! die beste Religion
kan auch keinen andern Zweck haben; allein, üben
wir denn auch aus, was wir im Munde führen? –
ehemals war öffentlicher Raub und Mord gewöhn=
licher als jezt, die Gerichtsstätten waren mit Leichen
der Uebelthäter angefüllt, jezt sind sie zwar leer,
und veralten zu Ruinen, allein giebts draum weni=
ger Räuber und Mörder? – ist es weniger Raub,
wenn man einem unschuldigen unerfahrnen aber mit
reizbaren Nerven begabten Mädchen auf dem Schlan=
genwege nachschleicht, sie endlich zu Fall bringt,
Schlangenweg: Schlange ist in der Bibel Symbol des Teufels; der auf Umwegen – sich schlängelnde Weg – versucht, sein böses Ziel zu erreichen.
und dadurch einen braven Mann seiner künftigen
Gattin, eine mögliche gute Familie ihrer Mutter,
und eine solche unglückliche Person gar oft ihrer
ganzen zeitlichen und ewigen Glückseligkeit verlustig
macht? – ist das weniger als Mord, wenn man
vernünftige Geschöpfe in die Welt sezt, die aus
Mangel an einer guten Erziehung schlechte arme be=
dürftige Menschen, oder wohl gar Bösewichter wer=
den? – oder wenn man dem edlen rechtschaffenen
Mann
des Revolutions=Geistes. 11
Mann seine schwache Gattin verführt, die ohne diese
Verführung gut geblieben, und wohl gar tugend=
haft geworden wäre? – heist das nicht morden,
wenn man bey leichtfertigen Dirnen seinen eigenen
und seiner Nachkommen Lebensquelle vergiftet, und
solche gefallene Verabscheuungswürdige, aber doch
mitleidenswerthe Wesen noch immer tiefer stürzt? Ist
des Empordrangs nach Ehren und Aemtern, auf
Unkosten des rechtschaffenen bescheidenen und thä=
tigen Mannes weniger geworden? – in dem Fall
schmeichelt und heuchelt man den Fürsten, und
knüpft ihnen wohlweißlich, wie man zu sagen
pflegt, die Faust in der Tasche. Haben wir ja
frische und fürchterliche Beyspiele, daß gelehrte
berühmte und verständige Männer, die ihrem Für=
sten ihr ganzes Glück und ihre dermalige anstän=
dige und ehrenvolle Existenz zu danken hatten,
diesem ihrem Wohlthäter nicht blos den Gehorsam
aufkündigten, sondern ihn auch, so viel an ihnen
war, seiner Regierung entsezten. An dem allem
ist vorzüglich Stolz und Mangel an Religion und
Gottesfurcht schuld. Die Religion befiehlt schlech=
terdings der Obrigkeit, die Gewalt über uns hat,
zu gehorchen, und dies so lange als sie unser Le=
ben und das was zum Wesen gehört schüzt; ge=
schieht dies nicht mehr, so muß man an sichere
Oerter
12 Untersuchung der Quellen
Oerter auswandern, und kan man das auch nicht,
so tritt das Gesez der Nothwehr, aber nicht des
Aufruhrs ein.
Wer nur einiger maßen die Welt kennt, der
weiß daß dieses so eben entworfene Bild, leider!
passend ist; Männer die einen grosen gelehrten
Ruf, so gar den Ruhm der Wohlthätigkeit nnd [sic; und]
Würksamkeit zum allgemeinen Besten haben, tra=
gen insgeheim schreckliche Brandmaale in ihrem
Brandmal: Hier Zeichen; vgl. 1 Tim 4, 2.
Gewissen mit sich herum. Religionslehrer, denen
aus sicheren Ursachen dran gelegen ist, den Ver=
edlungs= und Vervollkommnungsweg so breit und
so eben zu machen als nur möglich ist, feilen dre=
hen und critisiren so lange an der ehrwürdigen
Quelle aller Sittlichkeit, bis sie ganz und gar
keine Form und kein Ansehen mehr hat, und in
dieser Gesinnung bilden sich Jünglinge zu Volks=
lehrern, die dann warlich keine grose Progressen
Progressen: Fortschritte
in der Aufklärung des Volks machen können.
Die Hand aufs Herz, edler biederer teutscher
Mitbürger! gieb Gott die Ehre und sag die War=
heit: ist die Classe Menschen, die ich bisher ge=
schildert habe, besonders unter den Gelehrten und
so genannten Honoratioren, nicht zahlreich und
deswegen furchtbar? unbändiger Stolz, zügellose
Wollust, geheimer Ingrimm gegen Christum und
Seine
des Revolutions=Geistes. 13
seine Religion, und eine schreckliche Kälte gegen
Gott, das sind die Quellen des Revolutions=
Geistes und auch zugleich seine deutlichsten Ca=
racterzüge. Den Titanen gleich bestimmt dieser
Titanen: griechischer Mythos: das zweite Göttergeschlecht, die sechs Söhne und sechs Töchter des Uranos und der Gaia: Okeanos, Koios, Kreos, Iapetos, Hyperion, Kronos; Thea, Rhea, Themis, Mnemosyne, Phoibe, Tethys. Die Titanen wurden von Zeus und seinem Göttergeschlecht in der Titanomachie besiegt, nur Okeanos behielt seine Macht. Der Name wird auch auf einige ihrer Nachkommen (z. B. Prometheus) übertragen. – Titanomachie: Der Kampf des älteren Göttergeschlechts (Titanen) gegen die olympischen Götter, die von Zeus geführt wurden. Die Schlacht dauerte zehn Jahre und endete mit dem Sieg der Olympier.
Geist den Thron der Gottheit, wie vielmehr wird
ihm die Herrschaft seines Mitmenschen und dessen
Obergewalt unleidlich seyn? – dieser Titanismus
Titanismus: in die Weltpolitik eingreifen wollen; vgl. Grimm: Dt. Wörterbuch unter Weltpolitik.
ist Hochverrath gegen die göttliche Majestät, und
Angriff auf die Staatsverfassung, das Staatsoberhaupt oder die innere Ordnung eines Staates
wird schrecklich bestraft werden; und eben diese
Parthie ist es, die heut zu Tage vorzüglich den
Ton angiebt, den so viele übrigens gute Menschen
nachhallen. Ist es nun nicht billig, erst an sich
nachhallen: wiedergeben, das Echo davon bilden.
selbst anzufangen, wenn von Abstellung der Män=
gel und Gebrechen die Rede ist? – wie kan man mit
Augen die so ganz verdorben sind, und alles unrich=
tig und im falschen Licht sehen, Mängel und Gebre=
chen der Staatsverfassungen und der vorgesezten
Obrigkeiten nach der Wahrheit beurtheilen? – Last
uns erst die Balken wegräumen, ehe wir uns an die
Splitter unserer Regenten wagen! –
--
Vgl. S. 6!
14 Untersuchung des Misbrauchs
II.
Untersuchung der Klage über den Misbrauch
der regierenden Gewalt.
Ja! es ist doch unläugbar, höre ich hie und
da einen rechtschaffenen Mann klagen, daß die Obrig=
keiten öfters ihre Gewalt misbrauchen; es ist freilich
wahr, daß auch die Unterthanen verdorben sind,
aber deswegen können sie doch von ihren Regenten
Gerechtigkeit und eine wohlgeordnete Regierung
fordern! – Gut! last uns auch darüber unpar=
theyisch reden, und die Sache im Angesicht der rei=
nen Warheit prüfen: gesezt, ein braver christlich=
denkender Mann hat von seinen Voreltern den
Zehenden eines Dorfs, oder Lehngüter geerbt, de=
ren Besitzer ihm jährlich gewisse Abgaben entrichten
müssen; jezt sind jene Zehenden und diese Einkünfte
ein Theil des Ertrags, wovon er leben uns seine
Familie seinem Stande gemäß versorgen und ernäh=
ren muß; nun macht er seinen Plan was er jährlich
braucht, und sezt jene Einkünfte unter die ständigen
Einnahmen, die er also, wenn er ordentlich aus=
kommen soll nicht entbehren kan. Wie, wenn nun
die Bauern des Zehentbaren Dorfs die Gerechtsame
Gerechtsame: vererbliche und veräußerliche Nutzungsrechte.
dieser Zehnten untersuchen wollten? – wenn ihnen
ein neumodischer Kopf vordemonstrirt, die Zehnten
seyen
der regierenden Gewalt. 15
seyen überhaupt ungerechte Abgaben, und ein Ein=
grif in die Menschenrechte; sie bezahlten ja dem
Landesherren ihre gebührende Steuern und Schaz=
zungen, und hätten also nicht nöthig auch von ihrer,
Schazzung: Schatzung = öffentliche Abgabe, „welche ein Unterthan nach Maßgabe seines Vermögens, seiner Grundstücke, seines Alters, oder seines Standes zu den öffentlichen Bedürfnissen entrichtet“; Adelung-GKW Bd. 3, S. 1377
mit saurem Schweiß erworbenen Erndte, noch einem
Manne etwas abzutragen, von dem sie nicht den
geringsten Genuß oder Vortheil hätten; was würde
dann der brave rechtschaffene und christlichdenkende
Mann dazu sagen? – würde er sich nicht auf das
Recht der Erbschaft berufen, im Fall der Noth,
sein Recht durch einen Proceß ausmachen, und ihn
gewinnen?
Oder wenn sein Lehnbauer zu ihm käme und
wollte ihm beweißen, es seye gegen die Menschen=
rechte, daß er ausser den Staatslasten, die ohnehin
schwer genug wären, auch noch an ihn so vieles ent=
richten müste, was würde dieser Lehnsherr dazu sa=
gen? – könnte er sich nicht mit vollem Recht auf
seine angeerbte Gerechtsame berufen? – würde es
ihm nicht weh thun, wenn man ihm die Abschaffung
des Weins, des Caffee’s und anderer Bequemlich=
keiten des Lebens, deren Genuß ihm Erziehung und
Gewohnheit zum Bedürfniß gemacht hat, zumuthen
wollte, damit jene Bauern und sein Lehnsmann ihre
vermeyntliche Menschenrechte geniesen könnten? –
Ob
16 Untersuchung des Misbrauchs
Ob dieses Gleichniß auf den gegenwärtigen
Fall passe, das wird sich nun zeigen: unsre teutschen
Fürsten und Grafen sind von undenklichen Zeiten
her im Besitz ihrer Länder und Unterthanen. Viele
dieser Länder sind ursprünglich Grundeigenthum der
regierenden Familie und die Bauern ihre Eigenbe=
hörige; freylich sind diese Verhältnisse durch den
Gang der Dinge, durch Krieg und Friedensschlüsse,
Entscheidungen der Reichsgerichte, durch Verord=
nungen und Verträge auf tausenderley Weise modi=
fizirt und bestimmt worden, allein eben dadurch sind
nun auuch die Rechte und Pflichten der Regenten
und seiner Unterthanen genau berichtigt, so daß je=
der in jedem Fall weiß was er zu thun hat, und
wie weit er gehen darf. Wenn nur eine regierende
Familie auf diese angeerbte und wohlerworbene Ge=
rechtsame genau hält, und sich da nichts ankürzen lassen
will, so kan man ihr vor dem Richterstul der streng=
sten Gerechtigkeit nichts zu Last legen. Wenn man
mir aber dagegen einwendet, daß man auch über
diese Behauptung der herrschaftlichen Gerechtsame
ganz und gar nicht klage, sondern nur die Mißbräu=
che und die vielfältigen Ueberschreitungen der Grän=
zen dieser Gerechtsame rüge und abgeschaft wissen
wolle, so antworte ich: daß man, erstlich, aller=
dings sehr vieles gegen die Behauptung der Rechte
der
der regierenden Gewalt. 17
der regierenden Familien einzuwenden suche, und
zweytens: daß die Mißbräuche und Uebertretungen
der Gesetze in dieser unvollkommenen Welt eben so
wenig als Krankheiten und Tod abzuschaffen seyen,
und daß jedes gewaltsame Mittel, das die Unter=
thanen anwenden, die Mängel in ihrer Regierungs=
verfassung zu verbessern, weit schrecklicher und dem
Genuß der Menschenrechte weit gefährlicher sey,
als der strengste Despotismus selbst.
Daß der herrschende Titanismus allerdings den
Regenten, dem Adel, und der Geistlichkeit in den
catholischen Ländern, ihre wohlerworbenen Rechte
und Vorzüge entziehen wolle, das ist so entschiedner
wahr, und in unsern Tagen durch die traurigsten
Erfahrungen so sonnenklar erwiesen, daß es wohl
keiner weiteren Zeugnisse bedürfe, wenn man nur nicht
mit sehenden Augen blind wäre. Man wende mir
nicht ein, daß nur von unrechtmäsig an sich gezoge=
nen Gütern die Rede sey; nein! auch die recht=
mäsigen und wahren Domänen der Regenten will
man ohne Ersaz unter die Bauern vertheilen; der
Adel wird nicht etwa auf seine, in den Staats=
verfassungen gegründete, alten Rechte und Vor=
züge zurückgesezt; keinesweges! im Gegentheil,
man hebt ihn gar auf und jagt ihn ins Elend.
Man berechnet nicht was die geistlichen Stiftun=
B gen,
18 Untersuchung des Misbrauchs
gen, von alters her mit Recht besitzen, um das
neuerworbene davon abzusondern, mit nichten!
mit nichten! mitnichten = keineswegs, durchaus nicht.
man hebt sie gänzlich auf, und läst ihre friedliche
Nuznieser betteln wo sie wollen, wenn sie nicht
mit den Titanisten in ein Horn blaßen wollen.
Gott bewahre! – hör ich da einen sagen,
wer denkt denn in Teutschland an solche schreckli=
cje Ausschweifungen der Neufranken? [Franzosen] – Guter
Freund! dachten denn auch wohl die redlichen
Männer, die dem königlichen Märtyrer, Ludwig
dem XVI. die Zusammenberufung der Stände,
Ludwig XVI., König von Frankreich (1774-92), geb. Versailles 23.08.1754, gest. (hingerichtet) Paris 21.01.1793; 5.05.1789 Einberufung der Generalstände. – Vgl. Jung-Stillings Gedichte auf diesen König.
zur Abstellung der Misbräuche anriethen, daß ihre
wohlgemeynten Vorschläge solche Folgen haben
würden? – Man nehme einmal einem teutschen
Reichsfürsten seine Soldaten, seine bewafnete
Macht weg, und versammle dann die drey Stän=
de, mit der vollen Freyheit die Misbräuche abzu=
schaffen, und man wird sehen, welcher unabsehba=
rer Jammer daraus entstehen wird: alle ehemals
gestrafte und nachher begnadigte Missethäter, alle
die jemahls ihrer Meynung nach, von Ober= und
Unterobrigkeiten beleidigt worden, alle, alle werden sich mit
dem übrigen Abschaum des Volks vereinigen,
und es wird ihnen an Demagogen nicht fehlen die
ihnen in den Mund legen was sie fordern sollen;
solche
der regierenden Gewalt. 19
solche Horden werden in jeder teutschen Reichspro=
vinz so gut wie in Paris die National=Versamm=
lung bestürmen, wer ihnen widerspricht wegjagen,
und ihre eigenen Creaturen, Marats, Robespier=
Marat: Jean Paul Marat, französischer Revolutionär, geb. Boudry (Kanton Neuenburg, Schweiz) 24.05. 1743, gest. Paris 13.07. 1793; einer der radikalsten Volksführer der Revolution von 1789, beeinflusste v.a. mit seiner Zeitung „L'Ami du Peuple“ die öffentliche Meinung. Schloss sich 1792 G. J. Danton an, war an den Septembermorden und als Präsident des Jakobinerklubs am Sturz der Girondisten maßgeblich beteiligt; wurde von Charlotte Corday erstochen.
Robespierre: Maximilien de Robespierre, französischer Politiker, geb. Arras 6.05. 1758, gest. (hingerichtet) Paris 28.07. 1794; seit 1793 im Wohlfahrtsausschuss, sicherte sich dort fast unbeschränkte Macht und setzte die Schreckensherrschaft („Terreur“) durch.
re’s, u. d. g. hinsetzen, und in wenigen Jahren
wird eben so das Blut des Regenten und der
edelsten des Volks in Teutschland fliesen als in
Frankreich; vielleicht mordet der Teutsche nicht so
theatralisch wie der Neufranken, aber desto fester
und wütender. Man wende mir nicht ein, daß
man dieses durch eine bewafnete Macht verhüten
könne – wer soll denn diese commandiren? –
der Fürst? – dann hört ja wieder die Abstellung
der Misbräuche auf, indem sich ein bewafneter
Fürst keine Gesetze vorschreiben läst. Die Volks=
versammlung? – in dem Fall wird sich der Pöbel von
seinen Deputirten keine Gesetze vorschreiben lassen,
folglich wird der Demagoge commandiren, und
dann giebt es Auftritte, wie jene, wo die Petions
Petion: Petion de Villeneuve, Jerôme, geb. Chartres 1753, n. A. 1756, gest. 1794; 18.11.1791 Maire, rief in dieser Position die Aufstände des Pöbels hervor, besonders den vom 20.06.1792; beantragte am 3. August die Absetzung des Königs; beim Sturz der Gironde 2.06.1793 verhaftet, Flucht nach Caen, man fand seine halbverweste Leiche mit der von Buzot auf einem Getreidefeld bei St.-Emilion.
und Santerres Volksführer waren. Mit einem
Santerre: Antoine Joseph Santerre, geb. Paris 16.03.1752, gest. ebd. 6.02.1809; Bierbrauer in der Vorstadt Saint-Antoine, Kommandant der Nationalgarde, brachte die königliche Familie ins Gefängnis und Ludwig XVI. zum Schafott, kämpfte in der Vendée, geschlagen bei Vihiers 10.07.1793, Schwager von Jean Etienne Panis.
Wort, hebt man einmal die Schranken auf, so
herrscht der zügellose Haufe, und das allgemeine
Elend ist nicht zu übersehen.
Last uns doch einmal billig und nüchtern über
die Sache urtheilen, und uns an die Stelle eine
regierenden Familie setzen: ein Erbprinz wird von
B 2 der
20 Untersuchung des Misbrauchs
Wiegen an, im Schooß seiner Familie erzogen,
seine Eltern und Geschwister sind um ihn, er hört
beständig von seinen Ahnen, von seinen königlichen
und fürstlichen Verwanden, deren Thaten, Vor=
zügen, Rechten und Gütern reden; alles was ihm
nicht verwandt ist, das sieht er mit tiefer Ehr=
furcht sich ihm und den seinigen nahen, wie ist es
also anders möglich, als daß er die Glieder seiner
und aller fürstlichen Familien für Wesen von höhe=
rer Art, als alle andere Menschen, ansehen
mußt? – diese Idee wurzelt also so tief in seinem
Gemüth ein, daß sie durch keine Gewalt mehr
ausgelöscht werden kan.
Nach und nach wird er älter, er gewöhnt sich
an die manigfaltige Bedienung, Bequemlichkeit
und Lustbarkeiten des Hofs; alle Ehrfurchtsbezeu=
gungen und Schmeicheleyen die ihm gesagt und
erzeigt werden, hält er für höchstpflichtmäsige Hul=
digungen, die die geringeren Stände der regieren=
den Familie vollkommen schuldig seyen, und die
weit entfernten bürgerlichen Stände, seine künfti=
gen Unterthanen, bleiben ihm so fremd und noch
bis dahin so gleichgültig als wenn sie ihn gar
nicht angiengen.
Nun sage mit einmal irgend einer unter den
hitzigsten Demagogen: wenn seine Familie regierend,
und
der regierenden Gewalt. 21
und er selbst Erbprinz wäre, ob er sich nicht
genau in dem nämlichen Fall befinden würde? – die Menschheit
ist sich immer gleich, auf dem Thron wie in der
Bauernhütte; wie können wir fordern, daß die
regierende Familien so ohne Vergleich mehr leisten
sollen, als wir in ihrer Lage leisten würden? –
doch weiter.
Der junge Herr bekommt Lehrer, und zwar
die Besten, welches nicht immer der Fall ist, man
Jung-Stilling unterrichte den Erbprinzen von Hessen, Sohn des Landgrafen Wilhelm IX.; vgl. dazu die Einleitung zur „Grundlehre der Staatswirthschaft“, 1792; hier unten S. 63 zitiert.
unterrichtet ihn in seinen Pflichten, als Mensch, als
Christ und als künftiger Regent, er bekommt neue
Begriffe, er lernt seine Verhältnisse gegen Gott
und gegen die Unterthanen kennen, aber er bleibt
doch immer Prinz, en Wesen höherer Art, und
selbst seine Führer und Lehrer bezeigen ihm in
ihrem Umgang, eine Achtung, die dieses Gefühl
unterhält; immer aber sind mit diesem Gefühl
Ueberzeugungen von der Rechtmäsigkeit alles des Ge=
nusses verbunden, den die regierende Familie für
allen andern von je her fordert. So wie sich nun
der junge Herr den Jahren des Unterschieds, oder
der Majorennität nähert, so bekommt er eine Art
majorenn: mündig, volljährig.
von Hof, oder er geht auf Reisen; von nun ab an
hört der Unterricht auf; da nun die durchaus recht=
schaffene Menschen weit seltner als die nicht recht=
schaffe=
22 Untersuchung des Misbrauchs
schaffenen sind, jene sich auch nie hervordrängen,
so ist es ein seltenes und ganz außerordentliches
Glück, wenn der Prinz Männer um sich hat, die
ihn nur nicht verderben. Gewöhnlich drängen sich
Menschen zu ihm hinan, die die Larve der Feinheit
und der Ehrlichkeit vorstecken, innerlich aber von lauter
Leidenschaften regiert werden. Er müste mehr als
menschlichen Verstand haben, ja er müste ein
Engel seyn, wenn er alle den Fallstricken entgehen
wollte, die ihm Heuchler und Schmeichler stellen,
um ihn in ihr Intresse [sic; Interesse] zu ziehen und ihre eigenen
selbstsüchtigen Zwecke zu erreichen. O sat mir,
ihr brausende Fürstentadler! – würdet ihr an ihrer
Stelle besser seyn?
Endlich kommt dann ein solcher Prinz an die Re=
gierung; da tretten nun Heere von Menschen aller Art
auf, die etwas zu fordern haben; der eine sucht
dieses der andere jenes, keiner aber, oder doch
selten eine, das allgemeine Beste, und doch stellen
sich alle so, als wenn sie ihr Leben, ihr Haab [sic; Habe] und
Gut für den Fürsten und das Vaterland aufopfern
könnten und wollten. Da soll nun der Fürst durch
alle die Masken durch un ins Herz sehen, Ey!
dann müste Er ja ein Gott seyn! da sind alte
Minister und geheime Räthe die den Gang der Re=
gierungsgeschäfte in den Händen haben, Familien
die
der regierenden Gewalt. 23
die hoch am Brett stehen, ungerechte und schädliche
Adelung-GKW Bd. 1, S. 1190: Hoch ans Bret kommen, ein hohes Ehrenamt bekommen, zu Ansehen gelangen.
Höflinge, die sich hinauf geschwungen haben, allen
diesen sieht nun der junge Regent auf die Finger
und merkt Unrath; er entfernt einen nach dem an=
dern, und nun fangen diese an laut zu klagen und die
Publizität hallt es in allen öffentlichen Blättern nach.
hallt nach: gibt das Echo, wiederholt diese Klagen.
Publizität: = Publizistik, die Presse, die Zeitungen.
Jezt erscheint der Fürst vor dem Publikum als ein
strenger und ungerechter Despote. Endlich und zu=
lezt sieht er allenthalben Unredlichkeit, Eigennutz
und Heucheley, jezt traut er fast keinem Menschen
mehr, auch gegen den redlichen Mann wird er mis=
trauisch, und wer wills und kanns ihm verdenken?
Auch der rechtschaffenste und treuste Fürst wird unter
diesen Umständen endlich verdrieslich, er hilft sich in
dem Wirrwarr der Geschäfte so gut durch als er kan,
wählt sich eine Lieblingsbeschäftigung um doch auch
des Lebens einigermaasen froh zu werden, und läst
übrigens den Gang der Dinge so gut gehen als er
kann.
Während der Zeit bleiben nun die alten Män=
gel und Gebrechen und es kommen noch wohl neue
dazu, viele werden aber auch abgeschaft. Beson=
ders erheben sich bey dem überhand nehmenden Lu=
xus, Klagen über die vielen Abgaben die die Unter=
thanen entrichten müssen; vielleicht geschieht das
auch hin und wieder nicht ohne Grund; allein man
stelle
24 Untersuchung des Misbrauchs
stelle sich einmal an den Plaz des Fürsten, er hat
Familie und Verwandten, deren jeder den standes=
mäsigen Unterhalt als ein Recht fordert; in den
Cammeretats, hat jede Einnahme ihre bestimmte
Ausgabe, bleibt jene aus, so kan auch diese nicht
statt finden, und der, der entbehren muß, klagt; und
wo soll man bey einer solchen Menge der Dinge an=
fangen und endigen?
Ueberhaupt muß man, wenn man richtig von
der Sache urtheilen will, den Gesuchtspunct nicht
aus den Augen lassen, in dem sich ein Regent be=
findet.
Ein Fürst sieht die Vorzüge die seine Familie
vor andern hat, als ein angeerbtes Recht an, er
glaubt den Genuß derselben vor Gott und der Welt
verantworten zu können; sein Hof, sein Glanz,
seine Kostbarkeiten, seine bequemere Lebensart, die
Ehrfurcht und der Gehorsam anderer gegen ihn, und
das Recht Gesetze zu geben und zu befehlen, das
alles sind ihm Güter die er rechtmäsig geerbt hat;
kiegen nun in allem diesem Genuß Misbräuche ver=
borgen. so kan er sich doch nicht so leicht überreden,
daß er Unrecht handele: denn er thut und geniest
was seine Vorfahren gethan und genossen haben,
warum soller angeerbten Vorzügen entsagen? –
und
der regierenden Gewalt. 25
und wenn er denn auch den Muth hätte für seine
Person zu sparen, und gar als Privatmann zu leben,
kan und darf er seiner Familie, Mutter, Onkeln,
Tanten, Vettern, Gemalin, Geschwistern u. d. g.
die nämliche Lebensart aufdringen?
Dazu kommt dann noch die tief eingewurzelte
Idee, von der sich ein Fürst selten los machen kan,
daß nämlich Land und Leute sein angeerbtes Eigen=
thum seyen, von dem er eben den Genuß mit Recht
fordern könne, den seine Vorfahren von je her ohne
Widerrede genossen haben. Wir wissen ja alle aus
der täglichen Erfahrung, daß es unter allen Classen,
der gewöhnlichen gebrechlichen Naturmenschen am
mehresten, der Tugendhaften wenige, und der grosen
und wahrhaft edlen Männer selten einen giebt;
warum soll nun der Regentenstand, der weit mehr
Schwierigkeiten in Ausübung der sittlichen Pflichten
zu überwinden hat, gerade hier eine Ausnahme
machen? Warlich! diese Forderung ist ungerecht. Ich
komme immer wieder aufs Balkenausziehen zurück:
wir Honoratioren stehen gegen die geringeren Stände
in einem ähnlichen Verhältniß, wir haben Sofa’s,
gepolsterte Stühle, tapezirte Zimmer, mit Gemäl=
den, Kupferstichen u. d. g. wir essen täglich Fleisch
und niedliche Speisen, und trinken Wein, Caffee,
Scho=
26 Untersuchung des Misbrauchs
Schocolade u. s. w. wir kleiden uns in kostbare
Tücher, Seide und feine Leinwand; wir haben
goldne Uhren und Tabatieren und Ringe, und wir
Tabatiere: Tabakdose; bes. Schnupftabak.
reiten und fahren wo wir auch gehen könnten.
Jezt last uns einmal den Handwerksmann und
Bauern mit uns vergleichen: er ist Mensch wie wir,
hat aber das alles nicht, im Gegentheil er plagt
sich, arbeitetet sich ab und behilft sich manchmal erbärm=
lich; das nicht nur, sondern eben saure Schweis,
den er mit Thränen aus seinem Blut herausprest,
der wird uns zur Besoldung, zu der Quelle woraus
wir alle unseren Luxus bestreiten, und die uns
manchmal noch nicht gros genug ist; der nämliche
Fall findet bey allen Gelehrten, Kaufleuten, Capi=
talisten, die von ihren Intressen leben und reichen
Capitalisten: Jdm., der sein Geld in etwas gibt; „Auch das Geld, welches in einer Handlung, einer Fabrik, oder einem andern Gewerbe steckt, wird ein Capital genannt; alles in Rücksicht auf den Gewinn, den es bringen soll. In dieser Bedeutung ist das Latein. Capitale schon lange üblich gewesen.“ Adelung-GKW Bd. 1, S. 1303.
Interessen: Zinsen.
Güterbesitzern statt, alle, aller ernährt der Bauer
und der Handwerksmann mit seinen sauern erwor=
benen Hellern. Was würden wir sagen wenn nun
diese Gewerbstände gegen uns aufttretten und Ab=
schaffung alles Misbräuche fordern wollten? – und
doch könnten sie das mit dem nämlichen Recht, womit
wir den Regentenstand und den Adel zur Reforma=
tion zu drängen suchen. O last uns gerecht
seyn! – Mißbräuche finden wir in dieser unvoll=
kommenen Welt allenthalben bey Hohen und Niedern,
und wer sie dann durchaus abgeschaft wissen will,
der
der regierenden Gewalt. 27
der fange ja erst bey sich selbst an: denn wenn das
jeder thut, so wird’s überall besser werden.
Alles was ich bisher zur Entschuldigung des
Regentenstandes gesagt habe, das gilt nun auch je
nach Verhältniß vom Adel, und den geistlichen
Stiftungen; überall liegen Rechte und Verträge aber
auch Misbräuche zum Grund, zu deren Abschaffung
ein jeder bey sich selbst den Anfang machen muß.
Noch muß ich einen Einwurf entkräften, den
mir mancher Titaniste und Nichttitaniste machen
wird; sie sagen: Gott! warum hat uns denn das
Schicksal nicht in der freyen Schweiz, in Holland
oder in England gebohren werden lassen? – da
S. u. S. 55.
athmet man Freyheit, da kan man reden, schreiben,
singen und sagen und glauben was man will! –
Ich versichere Ihnen meine Herren! es giebt über=
all Schranken, die für Ihren unbändigen Freyheits=
trieb viel zu eng sind; man muß überall bezahlen,
arbeiten und gehorchen, überall herrschen Misbräu=
che, und jede Staatsverfassung hat ihre Vorzüge
und ihr Drückendes: bey aller Freyheit, muß sich
doch der Berner Bauer von Zeit zu Zeit seine Vieh=
Bern: zweitgrößter Kanton der Schweiz; als Stadt Hauptstadt der Schweiz.
ställe von den herrschaftlichen Salpetersiedern aus=
Salpeter, Scheidewasser, Aqua fortis; meist gebunden in Form von Nitraten vorkommend, kommt vor, wo organische Substanzen verwest sind; Vorkommen auch im Harn (Urin). – „So entsteht der natürliche Salpeter besonders in wärmeren Ländern in einem mit organischen Stoffen, Harn oder Exkrementen geschwängerten, Kalk und Alkalien enthaltenden Boden und an Stallmauern.“
graben lassen; ein schreckliches Servitut, woran mei=
nes Wissens kein teutscher Fürst mehr denkt; bey aller
Freyheit muß der Holländische Bauer ohne Vergleich
mehr
24 Untersuchung des Misbrauchs &.
mehr zalen, als der Teutsche; und bey aller Freyheit
muß sich der Britte von seinen öfters neidischen
und unerfahrnen Zunftgenossen verurtheilen, oder
von seines gleichen im Schulden willen so lang in
den Thurm werfen lassen, bis er auch den lezten
Schuldturm, Schuldkerker: rechtskräftig verurteilte aber zahlungsunfähige Schuldner einer zivilrechtlichen Verbindlichkeit wurden hier eingesperrt.
Heller bezahlt hat. Ich weiß solchen unzufriedenen
Freyheitsstürmern keinen bessern Rath, als daß sie
nach Amerika und zwar in die unbewohntere Ge=
genden ziehen, da können sie ja machen was sie
wollen. Und wenn es ihnen so sehr um Menschen=
wohl und Beglückung zu thun ist, so finden sie dort
unter den Wilden ein weites Feld, wo sie wohl=
thätig würken, und mit der Zeit wohl gar, so
wie Manco Capac in Peru, eine kayserliche Fami=
Sagenhafter Gründer der Inka-Dynastie und der Stadt Cuzco. – Im Jahr 1787 hatte Jung-Stilling in dem "Intelligenzblat für Hessen" über Manco Capak berichtet, siehe die Texte hier. Hier schreibt er einleitend: „Manco Capac hieß der Mann, der / vor etlichen hundert Jahren das König= / reich Peru wild fand, aufklärte, ihm seine / Richtung zur Glükseeligkeit gab, und zum / Lohn sein Monarch wurde.“
lie gründen können.
III.
Untersuchung der Freyheit und Gleichheit als
angemaaster Menschenrechte.
Die Revolutionssucht unserer Tagen kommt mir
gerade so vor, als wenn die Schulkinder eines
Dorfs endlich einmal in der Aufklärung so weit
fortgerückt wären, daß sie glaubten, sie hätten
mit ihrem Schulmeister gleiche Menschenrechte,
und sich daher vornähmen, schlechterdings ihren
Buckel
Untersuchung des Begrifs &. 25
Buckel nicht mehr den Streichen ihres Lehrers so
Streichen = Schlägen (mit der Rute).
gedultig darzubieten, und seinen Befelen, gerade in
der Stunde wenns ihm gefiel, die Lection aufzu=
sagen, durchaus nicht mehr zu gehorchen. Dort
knirscht der latschichte Gassenbube, dem das Laster
latschicht: nachlässig, schwerfällig; wohl nach „latschen“ = schleppend, achtlos gehen; nach den Latschen = ausgetretene Schuhe.
schon aus allen Zügen herausguckt, auf den Zäh=
nen, über den Sohn des Herren Pfarrers,
daß er da an einem Tisch allein sitzen darf, oder
Der Pfarrer war damals die Aufsichtsperson der Lehrer.
über des Schulzen Sohn, daß er die Ober=
stelle einnimmt. Endlich werden diese freye Men=
schen des Jochs müde, sie schmeißen den Schul=
meister vor die Thür, schlagen den Söhnen des
Pfarrers und des Schulzen Löcher in die Köpfe
und jagen sie auch fort, und nun wählen sie sich
aus ihrer Mitte selbst einen Schulmeister, oder
gar etliche, die von Zeit zu Zeit abwechseln müs=
sen; was dabey nun für eine Zucht und Ordnung
heraus kommen kan, das läst sich denken, und um
das Lernen und Fortrücken in Känntnissen ist es
bey dieser Verfassung ganz und zumahlen geschehen;
die Bestimmung und der Zweck der Schule wird
schlechterdings nicht erreicht, und doch haben die
Schulknaben genau nah unsern herrschenden Be=
griffen von Freyheit und Gleichheit, oder den
Menschenrechten gemäß gehandelt. Darauf hör
ich einen einwenden:
„Dies
30 Untersuchung des Begrifs
„Dies Gleichniß ist elend und hinkend; sind
„wir denn noch Schulknaben? – niemand kan
„ja ehender Anspruch auf den Genuß der Menschen=
„rechte machen, bis sein Verstand entwickelt ist,
„und er den vollen Gebrauch seiner Vernunft
hat! – ich antworte: Mein Gleichniß ist nicht so
hinckend, nicht so elend, als es Ihnen vorkommt;
der ganze Unterschied besteht darinnen, daß die
Schulkinder Eltern haben, die sie wohl bald in Ord=
nung bringen werden, übrigens ist die Parthie ziem=
lich egal; können wir sagen daß bey dem gemeinen
Mann der Verstand völlig entwickelt sey, und daß
er den vollen Verstand der Vernunft habe? –
woher denn die erstaunlichen Verirrungen des Aber=
glaubens und die so gar schwachen Begriffe von
sittlichen Pflichten, von Recht und Unrecht? – so
gar der Gelehrtenstand ist bey aller seiner vermeint=
lichen Aufklärung, und bey allem Fortschritt in den
Wissenschaften, warlich und im eigentlichen Sinn noch
im Schulknaben Alter: Wie wenig sind der Wahrhei=
ten, die wir wissen, und über deren wesentliche und
zufällige Eigenschaften wir gleichförmig denken! –
wir sind uns nicht in den wichtigsten Pflichten der Reli=
gion und der Sitten, nicht einmal in den Gesetzen
des Naturrechts einig, wie können wir da sagen
wir seyen keine Schulknaben mehr? – bedarf das
Volk
der Freyheit und Gleichheit. 31
Volk überhaupt keines Mannes der es mit der
Zuchtruthe in der and in den Schranken hält? –
Wehe uns! wenn auch unsre Schulmeister so wie
in Frankreich , vor die Thür geworfen würden,
was würde dann aus unserer Ruhe und Sicherheit
werden? – Die heut zu Tage herrschenden Begriffe
von Freyheit und Gleichheit sind daher abscheulich,
empörend, und es ist Hochverrath sie auszubreiten,
so heilig und ehrwürdig sie auch in ihrer reinen
und ungetrübten Quelle seyn mögen. Last uns
diese wichtige Sache näher Prüfen: jeder Mensch
fühlt sich frey, wenn er nirgend in seinen Hand=
lungen oder in seinem Würkungskreiß gehindert
oder eingeschränkt wird, wenn er also thun darf
was er will; wir können auch das noch dazu rech=
nen, wenn er zu Befriedigung der Staatsbedürf=
nisse entweder gar nichts, oder doch nur so viel bey=
zutragen braucht als er sich selbst ungezwungen be=
stimmt hat. Diese Freyheit ist uneingeschränkt,
und ein jeder der die geniest, ist also in so fern
vollkommen glücklich und in diesem Puncte be=
friedigt.
So bald wir diese uneingeschränkte Freyheit als
ein heiliges und unverletzbares Menschenrecht anse=
hen, so hat auch jeder Mensch ohne Ausnahme
völlig gegründeten Anspruch auf den volkommenen
Ge=
32 Untersuchung des Begrifs
Genuß dieses Rechts, Folglich darf auch keiner
den andern an diesem Genuß hindern. Dazu wird
aber erfordert, daß
1) Jeder Mensch, jedes Mitglied einer bürger=
lichen Gesellschaft im höchsten Grad der Deut=
lichkeit wisse und erkenne, welche Handlung an
und für sich selbst recht oder unrecht, erlaubt
oder unerlaubt und nützlich oder schädlich sey?
– denn ich setze den Fall, der eine oder der
andere weiß das nicht, so wird er jeden Augen=
blick mit seinem Nebenmenschen in Collision kom=
men, er wird also oft einem andern seine Freyheit
einschränken, oder die Seinige wird, wenig=
stens seiner Meynung nach, eingschränkt, er
genießt also, seinen Begriffen gemäß, die ihm
zukommende Menschenrechte nicht; und
2) Muß bey einer uneingeschränkten Freyheit,
mit der vollständigsten Erkänntniß aller voll=
kommenen und unvollkommenen Pflichten, auch
ein vollkommen guter Wille verpaart gehen:
denn was hülfe das Wissen alles dessen, was
man thun sollte, wenn man es nicht thun woll=
te? – in diesem Fall würde wiederum allent=
halben die Freyheit eingeschränkt werden, und
vom Genuß dieses Menschenrechts wäre eben=
falls keine Frage mehr. Da nun aber die Ver=
bindung
der Freyheit und Gleichheit. 33
bindung der vollständigsten Erkännntnis aller
Pflichten mit dem vollkommen guten Willen, den
vollkommensten Grad der Veredlung und der end=
lichen Bestimmung der menschlichen Natur aus=
macht, so kan unstreitig die uneingeschränkte
Freyheit auch nirgends anders als in einer Ge=
sellschaft von lauter vollendeten Menschen statt
finden. Der Verfaßer der Lebensläufe in auf=
steigender Linie sagt daher an irgend einem Ort
gar schön:
Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796): Lebensläufe nach aufsteigender Linie mit Beylagen A, B, C [D, E, F, G, H.]. Bd. 1-3 (in 4 Teilen, 2289 S.) Berlin 1778-1781.
„Wenn wir einmal alle im Paradies leben
„könnten, ohne daß einer von uns seine Hand
„ausstreckte, um vom Baum der Erkänntniß
„des Guten und Bösen zu essen, dann woll=
„ten wir zu unserm König gehen und sagen:
„Steig nun herab, lieber König! von die=
„nem Thron, und sey, wie unser einer: denn
„wir brauchen dich nun nicht mehr. [“]
Daß wir also in uns einen Trieb nach unum=
schränkter Freyheit fühlen, und daß diese Freyheit
auch ein würkliches Menschenrecht sey, das hat sei=
ne volle Richtigkeit; allein dieser Trieb hat keinen
andern Zweck, als um uns durch Veredlung unserer
Natur, und durch immer steigende sittliche Vollkom=
menheit, dieser Freyheit immer würdiger zu machen;
sie aber in unserem jezzigen Zustand fordern zu wol=
C len,
34 Untersuchung des Begrifs
len, kommt eben so heraus, als wenn recht muth=
willige, leichtsinnige und verschwenderische Pupillen,
Pupillen: früher Bezeichnung für Unmündige, die unter Vormundschaft stehen; Mündel; Waisen.
ihre Vormünder zwingen wollten, daß sie ihnen
ihr elterliches Vermögen herausgeben sollten. Hier
auf dieser Erden sind wir in der Schule oder im
Verbesserungshauß, und bedürfen der genauen Auf=
sicht eines Zuchtmeisters, wenn wir uns nicht alle
Augenblick an unserm Mitmenschen vergreifen sol=
len. So wie dereinst unsre Vollkommenheit wächst,
so wird auch in der künftigen Welt unsre Freyheit
wachsen, das können wir der Gerechtigkeit und
Güte Gottes sicher zutrauen.
Eigentlich fordern aber auch unsre heutige Ti=
tanisten den Genuß der uneingeschränkten Freyheit
nicht: denn sie sehen wohl ein, daß das nicht an=
geht, sondern sie bestimmen das Freyheits=Recht
so:
Jedermann muß thun dürfen was er will,
so lang er seinem Nebenmenschen nicht
schadet. Dieses ist nun der Begrif der natür=
lichen Freyheit. Wir wollen auch diesen untersu=
chen:
Wenn ein Bauer dem andern durch das Graß
seiner Wies, oder über das Getreydefeld geht,
ehe es Halme getrieben hat, so ist der eine über=
zeugt, dies Gehen schade weder dem Graß noch
dem
der Freyheit und Gleichheit. 35
dem Getreyde; der andre aber weiß gewiß, daß
es schadet, und er befürchtet, man möchte ihm
mit der Zeit einen gewohnten Weg daraus machen;
er klagt also, und jenes Gehen wird verbotten
oder gar bestraft; dieser Fälle giebt es täglich und
unter allen Menschen so viel, daß die Polizey und
die Justiz damit alle Hände voll zu thun haben.
Wir können daher mit Grund behaupten, daß wir
in dem, was unserem Nebenmenschen schadet, bey
weitem nicht einerley Meynung sind, sogar, daß
jeder Mensch darinnen seine eigenen Grundsätze
habe, die theils aus dem Grad der Erkänntniß
seiner Pflichten, theils auch aus seiner ihm eige=
nen Denkungsart entspringen. Da nun aber jeder
Freyheitsgenuß nothwendig darinnen bestehen muß,
daß man sich würklich als frey empfindet, so ist
kein Mensch frey, insofern er unter Gesetzen lebt:
denn er wird oft und vielfältig gegen seine Ueber=
zeugung eingeschränkt. Die natürliche Freyheit ist
also ein Ding, das zugleich ist und nicht ist, folg=
lich ein Widerspruch und also unmöglich.
Giebt es denn ganz und gar keine Freyheit so
lang wir in dieser unvollkommenen Welt leben? –
O ja! es giebt eine eingebildete und eine wahre Frey=
heit. Die eingebildete ist, wenn man bey mannig=
faltigen Einschränkungen sich doch für frey hält,
und das ist der Fall, in dem sich die Republikaner
C 2 gewöhn=
36 Untersuchung des Begrifs
gewöhnlich befinden: diese müßen bezahlen, arbei=
ten und gehorchen so gut, wie andre Unterthanen,
aber da sie entweder ihre Vorgesetzen wählen hel=
fen, oder zu Zeiten mitrathen dürfen, vornemlich
aber, weil man sie von je her weiß macht, sie
seyen frey, so glauben sie es auch, im Grunde
aber ist es doch blose Einbildung: denn wenn sie
auch auf der einen Seite für den monarchischen
Unterthanen Vorzüge haben, so haben sie auch da=
gegen wieder viele Nachtheile, von denen jene nichts
wissen.
Aber last uns nun auch einmal die wahre Frey=
heit prüfen“ – eine Freyheit, die jedermann, und
bey allen Einschränkungen vollkommen geniesen,
folglich sich so glücklich fühlen kan, als es in die=
sem Erdenleben möglich ist: Wenn wir den Begriff
der Freyheit recht in seinem Wesen betrachten, so
ist sie im Grunde nichts anders, als ein anerschaff=
ner Trieb, durch ungehindertes Würken von ei=
ner Stuffe zur andern hinaufzusteigen, um endlich
den Gipfel der vollkommenen Menschenhöhe zu er=
reichen; eigentlich ist also der Freyheitstrieb mit
dem Vervollkommungstrieb einerley. Nun besteht
aber der ganze Feler darinnen, daß wir jene Men=
schenhöhe höchst ungerechter Weise entweder im
Reichthum, oder im höchsten Genuß aller sinnlichen
Vergnügen, sey es auch im reinen und abstrakten
Sinn
der Freyheit und Gleichheit. 37
Sinn des Epikurs, oder im immer steigenden Ge=
Epikur, geb. Samos um 341, gest. Athen ca. 270; für ihn war Lust das Ziel des Lebens, worunter er die Freiheit von Schmerz und Seelenruhe verstand.
nuß der äußeren bürgerlichen und Standeslehre su=
chen; gewöhnlich verbinden wir sogar alle diese
Zwecke mit einander, und machen sie zum glänzen=
den Ziel, wornach wir ringen, folglich ist es nicht
anders möglich, als daß wir uns in die sinnlichen
Gegenstände, die uns Reichthum und Vergnügen
gewähren, und in die bürgerliche Ehre unter einan=
der theilen müßen. Bey einem unendlichen und
unersättlichen Trieb aber theilen müßen, das wider=
spricht unserer Natur und unseren Begriffen von
den Menschenrechten, und eben hier liegt der ganze
Grund alles Misvergnügens, indem man immer
Freyheit und Genuß der Menschenrechte sucht, und
sie doch in keiner Lage und in keiner Staatsverfas=
sung finden kann.
Es fehlt also hier blos am rechten Begriff von
der Bestimmung des Menschen; diese kann bey der
Kürze unsers Lebens nicht sinnlicher Genuß und irr=
dische Ehre seyn, sondern sie ist nichts anders als
immer wachsende Erkänntniß unserer Pflichten und
alles dessen, was wir zu thun haben, und dann
beständige Uebung im Wollen alles dessen, was
recht und gut ist. In Ansehung des Erstern wird
unsere Würksamkeit auch unterm strengsten Despo=
tismus nicht eingeschränkt; in Rücksicht der Erwer=
bung aller Känntniße deßen, was unsere Pflicht ist
sind
38 Untersuchung des Begrifs
sind wir in jeder Lage vollkommen frey, besonders,
da wir die Hauptquelle dazu in uns selbst haben, und
wir uns auch wenigstens in Teutschland über Man=
gel an den äußeren Hülfsmittelm nicht beschweren
können; und das das Andere betrifft, so müßen
wir immer das nur wollen, was Gott will, weil
der nur allein vollkommen weiß, was recht und gut
ist, finden wir daher einen Widerstand in unserm
Würken, dessen Ueberwindung für uns zu schwer ist,
oder wodurch wir Unordnung und Uebels stiften könn=
ten, so müßen wir das nicht wollen, weil es die Vorse=
hung nicht will. Daraus folgt also, daß die wahre Frey=
heit darinnen bestehe, daß man thun dürfe was
man wolle, so lange man zu seiner wahren und ei=
gentlichen Bestimmung würke, und also anders
nichts will, als was diese befördert; der Genuß
dieser Freyheit ist allein Menschenrecht, und kein
Despotismus kan ihn hindern, alle andere Forde=
rungen aber sind ungerecht und bloße Chimären.
Chimären: Trugbild, Hirngespinst.
Was nun auch das andre angemaaste Men=
schenrecht oder die Gleichheit betrifft, so müssen wir
vorerst ebenfalls ihren Begriff zergliedern, und un=
tersuchen, worauf sich die Forderung der allgemei=
nen Gleichheit gründe?
Alle Menschen sind Wesen einer Classe, alle
stammen von gemeinschaftlichen Eltern her, und alle
haben
der Freyheit und Gleichheit. 39
haben einerley Anlagen und Triebe; nach
dem reinen und abstracten Recht der Natur sind sich
also freylich alle Menschen gleich. Aber bey aller
dieser Gleichheit herrscht denn doch eine so grose
Verschiedenheit in der Wahl der Mittel, und in
den Graden der Stärke der physischen und morali=
schen Kräfte und Richtungen ihrer Anwendung, daß dem
allem ohnerachtet kein einziges Individuum dem an=
dern gleich ist. Wenn man also die allerrechtmäs=
sigste Freyheit der Handlungen der Menschen nicht
durch den allerunrechtmäßigsten Despotismus ganz
aufheben will, wenn also die Menschen nur einiger=
maasen frey würken dürfen, so kan diese natürliche
Gleichheit nicht lange dauren: denn der eine erwirbt
sich mehrere Reichthümer, als der andere, und er=
hält dadurch mehrere Gelegenheit zu würken und zu
geniesen. Wieder einer erlangt mehrere Känntnisse
und Einsichten, als sein Nebenmensch, er wendet
sie in seinem Würkungskreyß an, und erringt sich
dadurch Rechte und Vorzüge vor ihm. Ein dritter
besitzt vorzügliche Leibeskräfte, Muth und Tapfer=
keit, er erkämpft sich Verdienste um das Vaterland,
und wird mit einem gewissen Grad von Obergewalt
über andere rechtmäßig belohnt u. s. w. Aus die=
sen richtigen Bemerkungen sehen wir, daß sich Frey=
heit und Gleichheit unmöglich mit einander vertra=
gen
40 Untersuchung des Begrifs
gen können: denn je gröser die Freyheit ist, desto
gröser wird nach und nach die Ungerechtigkeit werden.
Gegen das Alles haben aber auch unsere Revo=
lutionsfreunde, wenn sie nur noch nicht deliriren,
deliriren; im Delirium sein: wahnwitzig sein, Zustand der Verwirrung mit Wahnvorstellungen (im Fieber, Rausch).
ganz und gar nichts einzuwenden; diese Ungleichheit
ists nicht, die ihnen so lästig fällt, sondern jene,
die blos durch Geburt und Erbschaft entsteht: Da
sehen sie eine Mange von Familien, die Gesezgebung,
regierende Gewalt, Ehre, Reichthümer, grose Frey=
heiten und Vorzüge, wie andere Güter auf Kinder
und Kindeskinder fort vererben, und denen sie ge=
horchen müßen, ohne daß diese glückliche Menschen
Verdienste aufweisen können, die sie dazu berechti=
gen; das geht ihnen nun ans Herz, das ist nicht zum
Ausstehen, und doch wette ich Tausend gegen Eins,
daß unter denen, die gegen die regierende Fami=
lien und den Adel so schrecklich losziehen, selten ei=
ber seyn wird, der es nicht, wenn er selbst adelich,
gräflich oder fürstlich gebohren wäre, höchst unbe=
scheiden finden würde, daß man gegen diese Reichs=
constitutions mäsige Ordnung nun das Geringste ein=
zuwenden hätte! – Die Herren bedenken nicht,
daß diese Einrichtung Folge der so eben erklärten und
aus der Freyheit entsprungenen natürlichen Ungleich=
heit ist.
Wenn wir den Ursprung der mehresten altade=
lichen Familien in Teutschland untersuchen, so wer=
den
der Freyheit und Gleichheit. 41
den wir finden, daß ihre Stammväter und viele
unter ihren Nachkommen grose und wesentliche Ver=
dienste um das Vaterland hatten, man belohnte sie
mit freyen Gütern und Vorrechten, die sie auf ihre
Kinder vererben konnten; und eben dieses Erbrecht
sollte dann auch ein Sporn für diese seyn, sich wie=
derum um den Staat verdient zu machen. Ob nun
gleich die Umstände die Sache geändert haben, und
die stehenden Armeen dem Adel weniger Gelegenheit
geben, für ihre angeerbte Rechte und Freyheiten
dem Vaterland zu dienen, so giebt es doch noch im=
mer Veranlassungen gnug, wo sich ein solcher Mann
eben durch jene Vorzüge vor andern, die sie nicht
haben, nüzlich machen kan. Wenn dieses nun nicht
geschieht, so ist das ein Mangel, eine Unvollkom=
menheit der menschlichen Natur; wollen wir diese
rügen, so müßen wir wieder bey uns selbst zuerst
anfangen: denn das ist doch eine ausgemachte Sa=
che, daß ich einen andern wegen eines Verbrechens
nicht anklagen darf, dessen ich mich selber in eben
dem Maaß schuldig gemacht habe, oder ich muß
mir dann auch gefallen lassen, daß sich der Be=
klagte eben des Rechts gegen mich bedient, und
dann würden unsre Revolutionsfreunde größtentheils
übel wegkommen: denn wer unter den Honoratio=
ren hat nicht angeerbte Güter, Erziehungs= und
Standesvorzüge vor dem gemeinen Mann, die er
war=
42 Untersuchung des Begrifs
warlich durch persönliche Verdienste nicht erworben
hat?
Eben so, nur in einem höheren Grade verhält es
sich nun auch mit unseren regierenden Familien: ei=
nige haben sich in jenen rohen Zeiten, wo Ritter=
muth die größte Tugend war, durch Eroberungen
emporgeschwungen; allein jede dieser Familien kan
dagegen auch wieder Männer unter den Nachkom=
men der ersten Eroberer aufweisen, die durch eine
vortrefliche Gesetzgebung und Regierung, durch
Schutz und Beglückung das alles wieder gut mach=
ten, was allenfalls in der ersten Besiznehmung un=
gerecht war. Die mehresten teutschen Regenten=
häuser haben sich indessen in Ansehung der Unrecht=
mäßigkeit ihrer Besitzungen nichts vorzuwerfen, in=
dem sie, was ihre angestammte Erbländer betrifft,
von Kayser und Reich damit belehnt worden; auch
diese können Regenten aufweisen, deren glänzende
Thaten und hohe Tugenden mit vollem Recht uns
zur ewigen Dankbarkeit auffordern; - Schande!
unverzeyhliche Schande ist es, wenn wir nun sol=
chen Familien, denen wir ja unsere ganze Ruhe,
unsere Gewissensfreyheit, unsere ganze Sicherheit
zu verdanken haben, Vorwürfe machen wollen –
und worüber? – daß sie mehr sind als wir! –
daß sie Menschen sind, die wie alle andere ihre
Feler haben.
Was
der Freyheit und Gleichheit. 43
Was wäre Holland ohne die Prinzen von
Oranien und ohne die Fürsten und Grafen von
Nassau? – und doch, wie schnöde belohnt man ihre
Nachkommen dafür? Churfürst Friedrich der sieg=
reiche, Pfalzgraf bey Rhein, Pfalzgraf Gustav
Friedrich I. der Siegreiche, (13.08.1449/6.09.1451) Kurfürst von der Pfalz; von seinen Feinden „der böse Fritz“, von seinen Untertanen „Pfälzer Fritz“ genannt, geb. Heidelberg 1.08.1425, gest. ebd. 12.12.1776, Grabstätte seit 1696 in der Kapuzinerkirche in Heidelberg; ehel. 1472 Klara Dett, die er zum Fräulein von Dettingen erhob, (morg.) Klara Tott; seine Büste in der Wallhalla.
Gustav von Zweibrücken: Wahrscheinlich: Karl X. Gustav, geb. Nyköping 18.11.1622, gest. Göteborg 23.02.1659/60; Grabstätte: Ritterholmkirche Stockholm; Herzog von Zweibrücken-Kleeburg 1652-1660, König von Schweden 1654-1660
von Zweybrücken, Herzog Christoph von Wür=
Gustav von Zweibrücken
Christoph von Württemberg, geb. Bad Urach 12.05.1515, gest. Stuttgart 28.12.1568; reg. 1550-1568; wurde als Herzog von Württemberg anerkannt. Herzog Christoph wendete sich dem Protestantismus zu und erhielt im Vertrag von Reichenweier 1542 die linksrheinische württembergische Grafschaft Mömpelgard (Montbéliard) als Statthalter zugesprochen.Im Jahr 1544 heiratete er Maria Anna von Brandenburg-Ansbach aus eine protestantischen Dynastie, womit sich seine konfessionelle Poition festigte.
temberg, welche Männer? Haben nicht ihre Länder
und Staaten diesen Fürsten alles zu verdanken? –
Welche unendlichen Wohlthaten hat Philipp der Groß=
müthige, Landgraf zu Hessen seinen Staaten er=
Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen, geb. Marburg 13.11.1504, gest. Kassel 31.03.1567; 1527 gründete er die Universität in Marburg.
zeigt? – seine Reformation, seine Stiftungen
für Armen, seine Marburger Universität, und sei=
ne mannigfaltigen Verordnungen und Einrichtun=
gen, sind sie nicht alle glorwürdige Quellen des
Segens für alle seine Unterthanen? – Kann wohl
die allersorgfältigste Mutter für ihre Kinder mehr thun,
als was die Landgräfin Amalia zur Zeit des dreysig=
Amalia: Elisabeth Amalia, Landgräfin von Hessen-Kassel, geb. 29.01.1602, gest. 3.08.1651; führte nach dem Tod ihres Gatten, Landgraf Wilhelm V., und für ihren Sohn, Wilhelm VI., von 1637-1650 die Regentschaft; im Westfälischen Frieden erweiterte sie ihr Land u. a. durch die Grafschaft Hersfeld.
jährigen Kriegs für ihre Unterthanen gethan hat? und
wir Hessen sollten gegen dieses so verdienstvolle Für=
Jung-Stilling war in Grund bei Hilchenbach im Nassauischen geboren worden!
stenhaus undankbar seyn? – ich gedenke mit
Vorsaz keines jezt regierenden Fürsten, um den
Verdacht der Schmeicheley zu vermeiden. Wel=
che vortrefliche Männer hat nicht das gesamte Haus
Sachsen aufzuweisen? man denke nur an seine Re=
genten zur Zeit der Reformation und nachher an
Friedrich III., der Weise, geb. Torgau 17.01.1463, gest. Lochau bei Torgau 5.05.1525; Luthers Landesherr.
Herzog Bernhard von Weimar und an Herzog Ernst
Bernhard von Sachsen-Weimar: Held des Dreißigjährigen Krieges; geb. Weimar 16.08.1604, gest. 18.07.1639
den Frommen von Gotha; ohne die innigste Rüh=
Ernst der Fromme: Ernst der Fromme, Herzog von Sachsen-Gotha, geb. Altenburg 25.12.1601, gest. Gotha 26.03.1675; Begründer des Gothaischen Gesamthauses, auch im Ausland hoch geschätzt.
rung,
44 Untersuchung des Begrifs
rung, und ohne
rung, und ohne die Empfindung der tiefsten Ehrfurcht
kan ich mich niemals dieses Musters eine christlichen
Fürsten erinnern. Auch das Haus Braunschweig
hat grose und gute Regenten gehabt, was Her=
zog Ferdinand war, das darf und kann Teutschland
Ferdinand Albrecht II., Herzog von Braunschweig, geb. 29.05.1680, gest. Salzdahlum 3.09.1735.
nicht vergessen. Was wären wir jezt, wenn Frie=
drich der Einzige nicht existiret hätte? – und doch
Friedrich II., der Große, geb. Berlin 24.01.1712, gest. Schloss Sanssouci bei Potsdam 17.08.1786.
wäre er nicht Friedrich der Einzige geworden, wenn
ihm sein Vater und sein Urgrosvater Friedrich Wil=
helm der Grose nicht vorgearbeitet hätten. Und
Vater: Friedrich Wilhelm I., geb. Berlin (Cölln) 14.08.1688, gest. Potsdam 31.05.1740.
Urgroßvater: Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, geb. Berlin (Cölln) 16.02.1620, gest. 9.05.1688.
endlich können wir, ohne die gröste Ungerechtig=
keit, dem Erzhaus Oesterreich seine unsterblichen
erz-, Erz-: Zur Steigerung bzw. Verstärkung des Begriffs: sehr, äußerst groß; siehe Erzbischof.
Verdienst um das teutsche Vaterland absprechen?
– Wären wir nicht schon vor zwey bis dreyhun=
dert Jahren, und noch in spätern Zeiten ein Raub
der Ottomanen, ohne diese Vormauer geworden?
Ottomanen: = Osmane;nach dem türkischen Sultan Osman (1288-1326); Bezeichnung für die Türken.
– welche grose, gute und fromme Regenten waren
nicht die Maximiliane? – und last uns gerecht seyn!
Z. B.: Maximilian I., Römischer König (seit 1486) und Kaiser (seit 1508), geb. Wiener Neustadt 22.03.1459, gest. Wels 12.01. 1519. – Maximilian II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1564-76), geb. Wien 31.07.1527, gest. Regensburg 12.10.1576; Sohn Kaiser Ferdinands I., 1562 zum Römischen Kaiser und König gewählt. – Siehe auch die in Max von Schenkendorfs Gedichten genannten Kaiser.
wer Kayser Franz des ersten geheimes Leben weiß,
Franz I. Stephan, Römischer Kaiser (1745-65), als Herzog von Lothringen (1729-35) und Großherzog von Toskana (1737-65), geb. Nancy 8.12.1708, gest. Innsbruck 18.08. 1765; heiratete 1736 Maria Theresia und wurde damit der Stammvater des Hauses Habsburg-Lothringen; WETZER/WELTE Bd. 12, 1856, S. 392: „der Harmlose“, „Auch die Alchymie ward eifrigst von ihm betrieben.“; als Privatmann war er Finanzier auch der Lieferungen an Preußen im Siebenjährigen Krieg. S. 391: Er deckte Betrügereien bei den Armeelieferungen auf und machte sich um die Verbesserung des Finanzwesens verdient. – Was Jung-Stilling hier meint, muß noch unklar bleiben.
der muß diesem edlen Fürsten in seiner Seelen gut
seyn; denn er hat die vortreflichsten Regierungsplane
entworfen; wenn sie nicht alsofort ausgeführt wer=
den konnten, so waren blos die Verhältnisse schuld
in denen er sich befand; seiner Gemahlin der Kay=
serin Maria Theresia, wird keiner, der ihre
Maria Theresia, geb. Wien 13.05.1717, gest. ebd. 29.11.1780.
Geschichte nach der Warheit weiß, das Lob abspre=
chen, daß sie eine höchsttugendhafte, von Herzen
fromme
der Freyheit und Gleichheit &. 45
fromme, und ihre Unterthanen wie eine Mutter lie=
bende Dame gewesen. Joseph der Zweyte wurde
Joseph II., ältester Sohn Maria Theresias; geb. Wien 13.03.1741, gest. ebd. 20.02.1790. Toleranzpatent und Abschaffung der Leibeigenschaft 1781; 1776 Abschaffung der Folter, wegweisende, jedoch überstürzte Reformen.
als lauter Hitze und Drang ein ausgezeichneter guter
Regent zu seyn, ein Opfer seiner Plane, und Leo=
pold der Zweyte bedarf nur des Lesens der Briefe
Leopold II. geb. Wien 5.05.1747, gest. ebd. 1.03.1792; hob die Reformen seines Bruders Joseph II. z. T. wieder auf.
über Italien von Dü Paty, um in der Reihe der
Charles Marguerite Jean Baptiste Mercier Dupaty (geb. La Rochelle 9.05.1746, gest. 1788): Lettres sur l’Italie en 1785. Paris : de Senne 1788, 2 Bd. 8°. - Lettres sur l'Italie. En 2 vols. Paris, L'an IIIe de la République, (1795), 8 °, 195 S., 232 S. ; weitere Auflagen ; Übersetzung : Aus d. Franz. von Georg Forster (1754-1794). Bd. 1-2, 1. Aufl. 1789-1790; 2. Aufl. Frankfurt: Andreä 1805. –Französischer Jurist, Vorkämpfer für eine Reform des Strafrechts, Stuhlmeister der Loge „Les Neuf Soeurs“ in Paris.
grösten und edelsten Fürsten gesezt zu werden. Und
die Familien dieser unsterblichen und verdienstvollen
Männer, sollten wir darum daß es auch zuweilen
gewöhnliche, auch wohl lasterhafte Fürsten unter
ihnen giebt, dem Titanismus Preiß geben? Das hies
warlich unserm Nationalcaracter einen Schand=
fleck anhängen.
IV.
Untersuchung der Folgen die aus der Empörung
der Unterthanen gegen ihre Obrigkeit
entstehen.
Von den Staatsrevolutionen die aus Erobe=
rungen und durch Besitznehmung fremder Regenten
entstehen, kan hier deswegen die Rede nicht seyn,
weil der herrschende Geist unserer Zeit nichts damit
zu thun hat; nur allein die Folgen will ich unter=
suchen, die die Empörung begleiten. Man beruft
sich in diesem Fall auf eine Befugniß, die ihren
Grund
46 Untersuchung der Folgen
Grund in dem Naturrecht haben soll, daß nämlich
unmöglich viele Menschen um eines Einzigen
willen, sondern daß dieser Einzige vielmehr um
der vielen willen existire. Daraus folgert man
dann, wie man glaubt, logisch richtig, daß es nun
auch den vielen zukomme, den Einzigen der um ich=
res Besten willen da ist, zur Rechenschaft zu ziehen,
oder wenn er seinem Zweck nicht entspricht, ganz
abzuschaffen, und sich eine andre ihnen selbst gefällige
Verfassung zu geben.
Was den ersten Satz betrift, daß der Regent
um seiner Unterthanen willen, und diese nicht um
seier willen existiren, so hat niemand etwas dage=
gen einzuwenden: denn keiner kan regieren wenn er
keine Unterthanen hat; da nun regieren nichts an=
ders heist, als die Unterthanen zu schützen und be=
glücken, so ist Schutz und Beglückung der Zweck,
und der Regent das Mittel zu diesem Zweck. Es
ist also ganz natürlich daß die Mittel um des Zwecks
nicht aber dieser um jener willen da sey. Dies
läugnet aber auch kein vernüftiger Fürst, und Kay=
ser Joseph der Zweyte hat diesen Satz mehr als
einmal öffentlich behauptet. Ob aber die Folgerung,
daß nun auch deswegen der Regent schuldig sey,
seinen Unterthanen Rechenschaft von seinem Thun
und Lassen zu geben, richtig sey? das ist eine ganz
andere Frage: denn was kan dieses Rechenschaft ge=
ben
die aus der Empörung entstehen. 47
ben für einen andern Zweck haben, als zu unter=
suche ob der Regent auch gut und zweckmäsig re=
giere? – und im Fall er das nicht thut, ihm Ge=
setze vorzuschreiben nach denen er handeln soll, oder
wenn mans für gut befindet, ihn gar abzusetzen, und
einen andern an seine Stelle zu wählen, oder auch eine
republikanische Regierungsform einzuführen? also:
die Befugniß der Unterthanen, zu un=
tersuchen, ob ihr Landesherr auch gut
und zweckmäsig regiere: ists eigentlich,
worauf sich die ganze Macht des Revo=
lutionsgeistes gründet. Last uns deswegen
diese Befugniß einmal unpartheyissch und nach den
strengsten TRegeln des Rechts und der Warheit prüfen!
Ich glaubeich darf den Satz als ausgemacht
annehmen: daß, wenn ds Volk diese Befugniß
haben sollte, seinen Regenten wegen seines Thuns
und Lassens zur Rechenschaft zu ziehen, auch
jeder Hausvater vollkommenen Anspruch auf die=
ses Recht müsse machen können: denn was könnte
ihn doch von diesem Recht ausschliesen, da er Un=
terthan ist, und also geschüzt und beglückt wer=
den muß?
Dann darf ich wohl noch einen Satz als ausge=
machte und nicht zu bezweifelnde Warheit aufstellen,
und das ist folgender: jeder, der sich zu einer
Hand=
48 Untersuchung der Folgen
Handlung berechtigt hält, muß alles Wissen
und Wollen was zu dieser Handlung gehört,
oder im Gegensatz: niemand kan Befugniß oder
Recht zu einer Handlung haben die er nicht versteht,
oder wenn er sie auch versteht, von dem man nicht
gewiß ist, daß er sie nach den besten Regeln seines
Wissens und Gewissens ausführen werde.
So ausgemacht richtig, und in allen Fällen als
anerkannt wahr, auch dieser Satz allgemein ange=
nommen wird, so will man ihn doch im Fall der
Staatsrevolution nicht gelten lassen; die gemässig=
tern Freunde derselben sagen: ja das versteht sich
von selbst, daß der gemeine Mann, der Bauer
und der Handwerksmann von Staats= und Regie=
rungssachen nichts weiß, und daß er also auch in solchen
Dingen nicht urtheilen, und nicht entscheiden kan;
das muß er den Urtheilsfähigen (im Vertrauen ge=
sagt: das glauben sie selbst zu seyn) überlassen.
Die Titanisten hingegen gehen viel weiter;
allerdings! sagen sie: hat jeder Hausvater das
Recht, hier seine Stimme zu geben, des Volks=
stimme ist Gottesstimme (im Grund in diesem
Sinn, eine schreckliche Lüge) wenn die Nation oder
das Volk eine Verordnung oder ein Gesez giebt,
so ist jedermann schuldig zu gehorchen; sie hat die
natürliche Freyheit sich eine Staatsverfassung zu
wälen, [sic]
die aus der Empörung entstehen. 49
wählen, die ihr am liebsten ist, taugt sie nicht, was
geht das andre an? – und sie hat das Recht jedem
Schranken zu setzen, der ihr da in de Weg tritt;
und wenn auch seine Vorschläge besser wären als die
ihrigen, sie ist souverän sie darf thun was ihr gut
deucht.
Beyde Behauptungen müssen vor dem Richter=
stul der Vernunft und des gesunden Menschen Ver=
standes geprüft werden.
Im ersten Fall sollen blos die urtheilsfähigen
den Regenten zur Rechenschaft ziehen; diese wären
also im Grund die Gesezgeber des Volks; wie sol=
len nun diese ausgewählt bestimmt und mit der ge=
hörigen Gewalt versehen werden? – Hier sind nur
drey Fälle möglich:
1) Wenn sie er Regent wählt
2) Wenn sie sich selbst zu Gewalthabern auf=
werfen.
3) Wenn sie das gesammte Volk wählt.
Die erste Wahlmethode wird von den Revolu=
tionsfreunden alsofort verworfen: denn sie sagen,
das ist eben der Feler den wir rügen und den wir
abgeschaft wissen wollen.
Die zweyte ist deswegen ein verwerflicher Ge=
danke, weil sich bey weitem die mehresten Untertha=
nen für urtheilsfähig halten, und zwar diejenigen
D die
50 Untersuchung der Folgen
die es am allerwenigsten sind; welch eine Zerrüttung
würde in der bürgerlichen Gesellschaft entstehen,
wenn jeder der da glaubt er verstünde etwas von
Gesezgebung und Regierungssachen, auch das Recht
haben sollte mitzurathen? – jede Meynung würde
eine Parthey bilden; jede Parthey würde sich zu
verstärken suchen, und alle würden am Ende gegen=
einander zu Felde ziehen. Müste nicht dadurch eine
allgemeine Anarchie, und ein unübersehbares Elend
entstehen?
Endlich und zum dritten soll das Volk die Ur=
theilsfähigen wählen; dazu wird nun erfordert,
daß das Volk erst muß entscheiden können, wer ur=
theilsfähig ist, und zweytens muß es sie dann auch wäh=
len wollen. Wer nur die geringste Menschen=
känntniß, ja wer nur beobachtet hat, welche Cabalen
Cabalen: Kabalen; Intrige, Ränke.
bey Prediger und Schulmeister= und überhaupt bey
allen Volkswahlen gäng und gäbe sind, der muß
vor diesem Gedankenzurückbeben; ein jeder Böse=
wicht und gewissenloser Schlaukopf, der nur die
Kunst versteht sich bey dem Pöbel beliebt zu machen,
wird gewählt, der Abschaum der Nation kommt
ans Ruder der Gesezgebung, und nun ist des Jam=
mers kein Ende. Wer kan alle diese Facta läugnen,
Facta: Fakten, Tatsachen.
und wer muß nicht gestehen, daß die Wahl der Ur=
theilsfähigen durch sich selbst, und durch das allge=
meine=
die aus der Empörung entstehen. 51
meine Volk eine bloße, aber höchstgefährliche Chi=
märe sey? - kan man denn nicht einsehen, daß
bey unserer jetzigen, obgleich unvollkommenen Ver=
fassung, wie alles in der Welt unvollkommen ist,
und auch nicht anders seyn kan, noch immer am+
mehresten Urtheilsfähige in Regierungssachen mit=
würken? – Durchgehends werden doch gelehrte und
sachkundige Männer zu den Aemtern bestimmt,
unsere Generäle und Archonten sind keine Schnei=
Archonten: im antiken Athen einer der neun höchsten Beamten.
der, Schuster und Bierbrauer; wir haben keine
Männer an der Spitze, die Vatermörder, entlau=
fene Galeeren=Sclaven und gebrandmarkte Uebel=
brandmarken: ein Schandmal einbrennen; Brandmarke: eigtl. das Zeichen, das Gefangenen und Verbrechern in die Haut eingebrannt wurde.
thäter sind. O ja! ich gestehe gern daß es auch
schlechte Leute in den oberen und niederen Colle=
gien giebt, allein welches Uebel ist das gröste?
Aus diesem allem ist nun auch zugleich klar,
daß die von den Titanisten behauptete Souveräni=
tät des Volks, ein abscheulicher und höchstgefähr=
licher Irrthum sey; man stelle mir die kleinen de=
mokratischen Cantons in der Schweiz nicht zum
Beyspiel auf, diese bestehen aus etlichen Gemein=
den, deren Bürger lauter Bauern und die also
dem Stande nach alle gleich sind, hier ist ein
ruhige Volksherrschaft denkbar; aber wie kan ein
groses Volk, das aus so erstaunlich vielen höchst=
verschiedenen Ständen besteht, sich selbst regie=
D 2 ren? –
52 Untersuchung der Folgen
ren? – Gelehrte, Kaufleute, Handwerksleute und
Bauern, alle unter sich gegeneinander, und wieder
alle gegen den Adel, wie ist da Vereinigung zum
allgemeinen Zweck der Staatswohlfarth möglich? –
In diesem schrecklichen Zustand, muß nothwendig
immer die gröste und muthigste Parthey siegen und
herrschen, und diese kan aus keinen andern Gliedern
bestehen, als aus Menschen vom niedrigsten Pöbel,
deren es immer am mehresten giebt, die also nichts
zu verlieren haben, die ohne Erziehung und ohne
Känntnisse sind, und die von den wildesten Leiden=
schaften beherrscht werden. Wenn der Satz einmal
angenommen wird, daß alle Menschen gleiche Rechte
haben müssen, und daß sich alle gleich sind, so wer=
den in Italien die Banditen und Lazeroni bald den
Lazaroni: Lazzaroni; Bezeichnung für die Proletarier Neapels; wohl wegen des Befalls mit Aussatz (vgl. Lazarus; Lk 16, 19 f.; Schutzpatron der Kranken [Lazarett]) und der deswegen zu tragenden Lazarusklappern (Chama Lazarus) so bezeichnet. 1647 erhoben sie sich unter Masaniello gegen die Spanier und wurden 1798/9 von der Regierung gegen die Liberalen aufgehetzt; ebenso 1821 und 1848. – Vgl. Goethe: Italienische Reise; DuW 8.
Souverän ausmachen, und in Teutschland wird es
dann auch an Herrschern dieses Gelichters ganz und
Gelichter: bis 18. Jh = Gesindel, Pack. – Pöbel.
gar nicht fehlen. Freyheit und Gleichheit in diesem
Verstand, ist ein Thier das aus dem Abgrund
Vgl. Off. 11, 7; Off. 17, 8.
herauf steigt und die Staatsverfassung der Hölle
auf Erden einführen will. Wie kan doch Thomas
Paine einer Nation die Unfehlbarkeit zugestehen! –
Thomas Paine (Payne): amerikanischer Publizist und Politiker, geb. Thetford (Norfolk, England) 29.01.1737, gest. New York 8.06.1809; ging 1774 nach Amerika, wo er sich in Flugschriften für die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien einsetzte. Nach Europa zurückgekehrt, verteidigte er in „Die Rechte des Menschen“ (2 Bde., 1791/92) die Französische Revolution. 1792 französischer Staatsbürger und Abgeordneter für den Nationalkonvent. Als Girondist 1793/94 inhaftiert, 1802 Rückkehr nach Amerika.
Gegen dieswe sonneklare Darstellung wendet man
ein, es seye auch die Meynung nicht, daß jener
Auswurf des menschlichen Geschlechts etwas zu sagen
haben solle, nur der Activbürger, der erwerbende
Haus=
die aus der Empörung entstehen. 53
Hausvater sey’s bey dem die Urquelle der regieren=
den Gewalt ihren Sitz habe, und haben müsse! –
Gut! – wer schüzt ihn aber dabey, er sich selbst? –
nun da sind wir ja wieder im Naturstand, wo sich
jeder Hausvater mit den Seinigen gegen jeden An=
fall bewafnen und in Sicherheit setzen muß, warlich
ein höchsttrauriges Schicksal! – oder soll eine Ar=
mee, eine Nationalgarde ihn schützen? – lieber
Gott! davon haben wir das Beyspiel in Frankreich;
der Activbürger wählt Deputirten; wie das zugehe,
das habe ich vorhin geschildert; diese Deputirten
machen den Souverän, die Gesezgeber aus, jeder
oder doch die mehresten suchen aber ihr eigenes, und
nicht das gemeine Beste; und sehr selten einer, oft
gar keiner versteht nur das geringste von der so
schweren Wissenschaft einer vernünftigen Politik.
Diese Archonten bestimmen nun wieder die Befehls=
haber der Nationalgarde, immer aber sind alle diese
Herren doch im Grund vom Pöbel und zwar vom
allergeringsten und sittenlosesten abhängig: denn
der hält sich für den Souverän und niemand macht
ihm dies Vorrecht streitig. In dieser Verfassung ist
also Schuz und Beglückung unmöglich, dagegen
Raub und Mord mit allen ihren Folgen allgemein.
Ich weiß Männer die so weit gehen daß sie sa=
gen: die Volkssouveränität sey einmal unläugbar,
die
54 Untersuchung der Folgen
die Folgen möchten nun auch seyn wie sie wollten;
wenns eine Nation nicht besser haben wolle, so sey
das ihre Schuld, und niemand habe sich darinnen zu
mischen. Wie! – geht’s denn den Menschenfreund
nicht an, daß jezt Millionen Kinder, und abermals,
mehrere hunderttausend rechtschaffener Menschen aus
allen Classen, dem Raub, dem Mord, der Plünde=
rung, dem schrecklichsten Despotismus, und allen
Gräueln der Anarchie ausgesezt sind? – war Frank=
reich je in irgend einer Lage, und unter irgend einer
Regierung so unglücklich wie jezt? – und ist wohl ein
Funke Hofnung übrig, daß dieses große Reich auf
diesem Wege jemals zur Ruhe und zum Wohlstand
kommen werde? – man kan sagen! die Schweiz,
Holland und England sind ja auf diesem Wege freye
und glückliche Staaten geworden; ich antworte aber
mit Grund: nein! auf diesem Wege nicht! – man
lese Johann Müllers Scheizergeschichte, so wird
Johannes von Müller geb. Schaffhausen 3.01.1752, gest. Kassel 29.05.1809; 1791 vom Kaiser zum Reichsritter Johannes, Edler von Müller zu Sylvelden ernannt; sein Erstlingswerk war „Die Geschichten der Schweizer. Boston [aus Zensurgründen, richtig: Bern]: Das erste Buch. by der neuen typographischen Gesellschaft 1780; XLVI, 1 Bl., 444 S., 2 Bll.; die weiteren Bände erschienen erst 1786 ff. u. d. T.: Die Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. – Goed. VI, 291, 3. HBLS V, 187
man eine himmelweite Verschiedenheit finden: viele
von Adel, die Geistlichkeit und das Volk setzen sich
gemeinschaftlich gegen die unerhörten Bedrückungen
der Oesterreichischen Beamten in Defensionsstand,
Defensionsstand: Zustand der Defension = Verteidigung.
und nun brachte eine Folge die andere hervor. In
den Niederlanden wüthete der Herzog von Alba und
Fernando Álvarez de Toledo, 3. Herzog von Alba, spanischer Feldherr und Staatsmann, geb. Piedrahita (Provinz Ávila) 29.10.1507, gest. Lissabon 11.12.1582; 1567 Statthalter der Niederlande; seine Härte (Hinrichtung Egmonts und Hoorn; siehe unten) entfachte trotz seiner militärischen Erfolge den Aufstand gegen die spanische Regierung von neuem, so dass er 1573 abberufen wurde.
mit ihm alle Gräuel des Gewissenzwangs; hier trat das
Recht der Selbsthülfe ein, und nicht der Pöbel son=
dern
die aus der Empörung entstehen. 55
dern ein tapferer Fürst, in Verbindung mit dem
Adel wars, der den Holländern mit seinem Blut und
Leben die Freyheit erkaufte. In England endlich
Egmont (Egmond), Lamoraal Graf von, Fürst von Gavere, geb. Schloss La Hamaide (Hennegau) 18.11.1522, gest. Brüssel 5.06.1568; seit 1559 Statthalter von Flandern und Artois. Mit Wilhelm von Oranien und Graf Hoorn trat er an die Spitze der Adelsopposition gegen die spanische Verwaltung der Niederlande. Obwohl Egmont am Aufstand (1566) nicht beteiligt war, ließ Alba ihn verhaften (1567) und mit Hoorn hinrichten.
Hoorne/Hornes, Philipp II. von Montmorency-Nivelle, Graf von Hoorne/Hornes, geb. 1518, gest. Brüssel 5.06.1568
gab die Eifersucht zwischen den königlichen Familien
York und Lancaster, und der daher entstehende
Lancaster (rote Rose) und York (weiße Rose) stritten um die Königswürde in England, die sog. „Rosenkriege“ dauerten von 1455 bis 1485; eine Fehde zwischen Magnaten mit begrenzten Söldnertruppen.
blutige Bürgerkrieg, dem Adel Anlaß, sich und
dem Volk nach und nach Freyheiten zu erwerben,
niemals aber ist von einer absoluten Volksherrschaft
in irgend einem Sinn die Rede gewesen. Und
überhaupt hab ich in diesen Blättern schon einmal
S. o. S. 27.
angemerkt, daß die Vorzüge dieser dreyen Staats=
verfassungen so blendend nicht sind, als wir sie uns
vorstellen.
Um aber doch auch den Revolutionsfreunden,
besonders in Teutschland, alle Gerechtigkeit wieder=
fahren zu lassen, so gestehe ich gerne, daß die ge=
mäsigten und billigsten unter ihnen, eine solche
billigsten: hier: vernünftigsten.
schreckliche und verabscheuungswürdige Staats=Um=
wälzung, wie die französische ist, ganz und gar
nicht wünschen, sondern sie glauben: man könne
durch friedliche und keinesweges gewalt=
same Mittel nach und nach den Mängeln unserer
Regierungsverfassungen abhelfen, und also auf
diesem Wege ohne Gefahr zum Zweck kommen.
So
56 Untersuchung der Folgen
So billig und edel das nun auch gedacht ist,
so zweckwidrig sind die Mittel deren man sich zu
diesem ende bedient; wir wollen sie prüfen:
Die Preßfreyheit überhaupt, und die Publizität
insbesondere, sollen die Mittel seyn, wodurch sie die
Regenten und ihre Dienerschaft zur Abschaffung der
Misbräuche bestimmen wollen; man ist der Wohl=
thätigkeit jener Mittel so gewiß, daß man entweder
hohnlächelt oder aus der Haut fahren will, wenn
man nur Bedenklichkeiten dabey findet; und dem
allen ohngeachtet, trette ich vor ganz Teutschland
auf und sage laut und unverholen: die Preßfreyheit
und die Publizität sind bey dem einzelnen Guten,
das sie hin und wieder gewürkt haben mögen, die
nächsten und ich kan mit Grund sagen, die zurei=
chenden Ursachen der allgemeinen Unzufriedenheit
mit den Regenten, und des allgemein herrschenden
Revolutionsgeistes. Durch alle die mancherley
Journale, Zeitungen, und fliegenden Blätter ist der
wahren, langsam fortschreitenden und gründlich er=
hellenden Aufklärung unendlich geschadet, hingegen
der Sittenlosigkei, der frechsten Religionsverach=
tung, und dem Hang zur zügellosesten Freyheit
Thür und Thor geöfnet worden. Läugne das wer
es läugnen kan! – die ganze Menge des lesenden
Publicums findet da jeden Augenblick Feler, bald
die=
die aus der Empörung entstehen. 57
dieses, bald jenes, bald seines eigenen Regenten
aufgedeckt, und gar oft sind solche Erzälungen nicht
einmal wahr; indessen glaubt man sie doch, und
man wird dadurch nach und nach verdrieslich, mis=
muthig und unzufrieden mit allen Obrigkeiten,
daraus erzeugt sich endlich ein förmlicher Haß gegen
sie und so ist der Revolutionsgeist gebildet. Ist
das denn nun der so wohlthätige Zweck den solche
Lehrer der Menschen beäugen? – und wird dadurch
beäugen: hier im Blick, im Sinn, als Ziel haben.
unsere Staatsverfassung nach und nach auf eine
friedliche Weise verbessert werden? – gerade das
Gegentheil, denn:
1) Gewöhnt man sich dadurch ans Räsonniren
und Tadeln der Regierungen, aller ihrer Ge=
setze, Verordnungen und Handlungen, in öffent=
lichen Gesellschaften, und verbreitet dadurch
den Geist der Unzufriedenheit und der Rebellion
auch unter den nicht lesenden Ständen.
2) Dadurch daß mans nun einmal gewohnt ist,
alles was die Obrigkeit thut, zu kritisiren,
verurtheilt man nun auch ihre vortreflichsten
Schul= und Beglückungs=Anstalten, so bald
sieuns entweder nicht einleuchten, oder wenn
manchmal aus zweyen Uebeln, die der Regent
weder entdecken kan noch darf, das Geringste
gewählt werden muß, diese Wahl des gering=
sten Uebels bitter gerügt wird. 3) Je
58 Untersuchung der Folgen
3) Jeder würkliche Feler, den der Landesherr
macht, denn er ist Mensch und fehlt daher
mannigfaltig, wird nicht mit dem Mantel der
Liebe bedeckt, nicht nach Menschenliebe beur=
theilt, nicht nach der Regel: was du nicht
willst das dir andere thun sollen, das thue
ihnen auch nicht, angesehen, sondern man
Goldene Regel.
jauchzt und triumphirt als über einen unwider=
legbaren Beweiß seiner Rechthaberey, dadurch
wird dann der Revolutionsgeist immer tiefer
und fester gegründet.
4) Wer nun einmal unzufrieden ist, der befolgt
alle herrschaftliche Verordnungen mit Wider=
willen und mit Zwang; er macht sich kein
Gewissen, sie zu übertretten, wo er es nur
ungestraft thun kan; da nun kein Gesez so
gut ist, das nicht bey der Verschiedenheit der
Gesinnungen hie oder da einem misfallen
sollte, so ist auch der Gehorsam immer man=
gelhaft, und bey der herrschenden Idee von
Volksfreyheit, die aus der Publizität entsteht,
macht man sich eine Freude daraus, diese
Freyheit zu behaupten.
5) Die unvermeidliche Folge von diesem allem
ist, daß jeder wachsame Regent sich genöthigt
sieht, Aufmerksamkeit, Strenge, genaue Poli=
zey
die aus der Empörung entstehen. 59
zey und Strafen auf alle Weise anzuwenden,
um seine Gesezgebung zu handhaben und sich
allenthalben Gehorsam zu verschaffen, weil
ohne dies die öffentliche Ruhe und Sicherheit
unmöglich bestehen kan. Das endliche Resultat
von diesem allem kann nun
6) kein anderes seyn, als daß bey dem immer
steigenden Grad des Revolutionsgeistes und
des allgemein herrschenden Freyheitssinnes,
auch die Würksamkeit der regierenden Ge=
walt eben dem Verhältniß steigen muß;
geschieht das nicht, so wächst der Muth der
Empörung dem Regenten über sein Haupt,
und die gewaltsame Revolution mit allen ih=
ren gräßlichen Folgen ist unvermeidlich; und
will er die Macht des Stärkeren immer ver=
mehren, so wie der Freyheitsdrang zunimmt,
so vermehrt sich auch dadurch der Haß und
die Verbitterung des Volks gegen ihn, die
Unzufriedenheit und die Sehnsucht nach Freyheit
wird immer stärker, und wenn endlich ihre
Elastizität aufs höchste gespannt ist, so bricht
sie durch, und nun ist des Jammers kein En=
de. Was soll nun ein Regent unter diesen
Umständen thun? – sanft, gerecht und weise
regieren! – Nun, wenn er das denn thut,
so
60 Untersuchung der Folgen
so geibts doch tausend und abermal tausend
Fälle, wo er dem Laster und dem Unrecht
entgegen würken und diese bestrafen muß;
überall wo er das aber thut, da entstehen Un=
zufriedene; und weil die wenigsten beurthei=
len können, was in Staats= und Regierungs=
sachen immer gerecht und weise ist, aber doch
dem Geist unserer Zeit gemäß urtheilen wollen,
so ist in einem solchem Fall der Fortschritt
des Revolutionsgeistes zwar langsamer, aber
er wird keinesweges gehindert und je gelinder
die Regierung ist, desto muthiger wächst das
Unkraut zwischen dem Waizen empor.
Vgl. Mt. 13, 24 ff.: Vom Unkraut unter dem Weizen.
Ich rufe alle verständige, wahrhaft urtheils=
fähige und unser Teutsches Vaterland liebende
Männer auf, und bitte sie ruhig und nach den
strengsten Regeln der Warheit, der Vernunft,
und der Religion meine Sätze zu prüfen; ich bin
überzeugt daß sie dann alle miteinander mir ihren
Beifall nicht werden versagen können. Ja ich getraue
mir mit meinen Gesinnungen in diesem Fall,und
mit diesen Blättern, vor dem Richterstul des
Weltregenten zu erscheinen, und ich bin gewiß
daß Er mich nicht beschämen, sondern mit Wohl=
gefallen zuwinken wird.
Sind
die aus der Empörung entstehen. 61
Sind denn nun die Preßfreyheit und die
Publizität, so wie sie heut zu Tage bey uns üblich
sind, friedliche und keinesweges gewaltsame Mit=
tel den Mängeln unserer Regierungsverfassungen
abzuhelfen? Warlich nicht! in Gegentheil, sie
würken unfehlbar und unaufhaltbar zur gewaltsa=
men Revolution mit allen ihren schrecklichen Fol=
gen: und wird es dann durch solche Revolutionen
nach so viuel vergossenem Bürgerblut besser wer=
wen? [sic; recte: den] – gewiß nicht! viel lieber will ich mein
Leben auf einer wüsten Insel einsam verseufzen,
als unter dem wütenden Volksdespotismus keinen
Augenblick meines Lebens und meines Eigenthums
sicher seyn.
O es ist um die vernünftige und wohlgeleitete
Preßfreyheit und Publizität eine herrliche Sache? –
aber darinnen sind wir uns doch alle einig, daß
Schriften die offenbar dem Staat und der Reli=
gion schädlich sind, unmöglich gedultet werden kön=
nen. Welche sind aber dem Staat schädlicher,
als wenn man die Handlungen der Regenten, sie
mögen nun würklich oder blos vermeintlich
schädlich seyn, öffentlich und ohne Scheu an
den Pranger stellt? – indem sie die unvermeidli=
che Würkung thun, daß sie eine frühere oder spä=
tere gewaltsame Revolution bewürken müssen,
wie
62 Untersuchung der Folgen
wie ich so eben unwiderlegbar bewiesen habe. Und
können wohl Schriften für die Religion schädli=
cher würken als solche, die sie auf einer schiefen
Seiten vorstellen, ein falsches Licht darüber ver=
breiten, und sie auf eine gröbere oder feiner
Weise lächerlich machen? – und haben wir deren
heut zu Tage nicht viele?
Liebe teutsche Landesleute! hohe und niedre,
vornehme und geringe! – es giebt warlich nur
einen sanften, friedlichen und wohlthätigen Weg,
auf welchem alle Mißbräuche, so viel es in dieser
unvollkommenen Welt nur immer möglich ist, abge=
schaft werden können, und dieser ist ganz gewiß,
allgemeines Streben nach sittlicher Vollkommen=
heit, Veredlung seiner selbst, und Vermeidung
des Luxus; mit einem Wort: allgemeine und
praktische Cultur der reinen und wahren christli=
chen Religion. Diese lehrt und unterthan und
gehorsam seyn, denen die Gewalt über uns haben,
und nicht etwa allein den gütigen und gelinden,
sondern auch den wunderlichen; sie überzeugt uns
von usnerem eigenen grund= und bodenlosen mora=
lischen Verderben, dadurch werden wir demüthig:
denn wir sehen ein, daß wir immer noch grösere
Feler als andere haben, und daß wir an ihrer
Stelle noch schlimmer seyn würden, wir werden
im
die aus der Empörung entstehen. 63
im eigentlichen Sinne tolerant, wir finden an uns
selbst so viel zu verbessern, daß wir äußere Re=
formationen gerne ruhen lassen, wir wissen daß
wir in dieser unvolkommenen Welt, des Ge=
nusses einer vollen Freyheit unfähig sind, und
daß sie uns schaden würde, daher dulten wir alle
Einschränkungen als Besserungsmittel mit Freu=
den und dann können wir gewiß seyn, daß bey
einem allgemeinen Fortschritt dieser einzigwahren
Aufklärung auch unsere Regenten keinesweges zu=
rückbleiben werden. Nicht der empörende Revolu=
tionsgeist, sonder der alles tragende und durch
Beyspiel und sanfte Ueberzeugung belehrende Geist
der Gottes= und Menschenliebe, ist das einzige
und wahre Mittel so wohl uns selbst, als unsre
Regenten und unsere Staatsverfassungen zu ver=
edeln.
Ist nun hie oder da ein ruhiger Freund der
Warheit, der nicht mit mir eines Sinnes ist, der
widerlege mich, aber mit Gründen, nicht mit De=
klamationen; nur diesem werde ich antworten und
gerne Belehrung annehmen wo ich überführt wer=
de; einen solchen bitte ich aber auch meine Grund=
lehre der Staatswirthschaft zu lesen, so wird er
Vgl. oben S. 21.
finden, daß ich auch die Regenten=Pflichten kenne.
Jeder aber bey dem der Titanismus überkocht,
E der
64 Untersuchung der Folgen &.
der mich mit Hohn und Bitterkeit, Schänden,
Schmähen und Vorwürfen angreift, wird von mir
mit Stillschweigen, so als wenn er gar nicht
existirte, vorbey gegangen; Es wird gewiß einmal
eine Zeit kommen, wo es sich zeigen wird, wer
von uns recht gehabt hat.
---
neue Seite (65) = Umschlagseite 3:
In der Neuen Akademischen Buchhand=
lung ist erschienen:
Michael Conrad Curtius, Landgräfl. Heßisch. Geh.
Michael Conrad Curtius geb. Techentin (Mecklenburg) 18.08.1724, gest. Marburg 22.08.1802 (!); seit 12.09.1789 Mitglied des Staatswirtschaftl. Instituts.
Justizraths, der Geschichte, Beredsamkeit und
Dichtkunst ordentl. Lehrers auf der Universität
Marburg, Geschichte und Statistik der Hessen,
gr. 8. 1 fl. 45 kr.
Dieses interessante Werk bedarf keiner weitern
Empfehlung, indem sich von seinem würdigen Herrn
Verfasser nichts gemeines erwarten läßt, und da
die Geschichte ganz bis auf jetzigen Zeitpunkt geht,
so muß sie nicht nur jedem Hessen, sondern über=
haupt jedem Deutschen willkommen seyn.
--
Ein in der Thierarzneykunst erfahrner Mann
hat sich entschlossen unter den Tittel
Magazin für Thierärzte.
die beßten Schriften zu sammlen und in Druck
zu geben, und zwar in median 8. soll jeder Band
1 ½ Alphabet betragen und doch nicht mehr als 16 gr.
kosten, wofür sich solches jeder Thierarzt, Schmidt,
oder auch jeder Hauswirth der Viehzucht halten
muß, anschaffen kann, um sein eigener Rathgeber
zu
S. 66 = Umschlagseite 4:
zu werden, oder andern zu rathe. Der 1ste Band
soll zu Ende dieses Jahrs erscheinen, Liebhaber
können sich an die Neue Akademische Buchhandl. in
Marburg wenden, die den Druck auf Kosten des
Sammlers übernommen hat. Nach Verlauf der
Pränumerationszeit kostet der Band 1 Rthlr.
--
Hinsichten auf die Ewigkeit, von Ludw. Benjamin
Ouvrier, der heil. Schrift Doctor, öffentl. Leh=
Ludwig Benjamin Ouvrier, Hofprediger in Darmstadt, Universitätsprofessor in Giessen : geb. 7. Mai 1735 in Prenzlau, gest. 1. Oktober 1792 in Giessen.
rer der Gottelsgel. und Superint. 2 Theile.
Ohngeachtet der sel. Verf. eine starke Auflage
davon veranstaltete, so vergriff sich doch solche her
als sienoch durch den Buchhandel auch auser unsern
Kreisen bekannt werden konnte. Ich habe daher
der Wittwe des Verstorbenen das ganze Verlags=
recht abgekauft und lasse das Werk ohnverändert,
in groß Octav abdrucken. – Diese Ausgabe ist mit
dem Leben des Verfassers, vom Freyherrn von Senken=
berg bearbeitet, vermehrt. Pränumeration ist 1 fl.
wofür die erste Auflage auch verkauft worden ist,
und wer auf 10 Exemplare collectirt, erhält das
11te gratis.
J. C. Krieger.
--